Göldi, Emil August

Emil August Göldi an Ernst Haeckel, Leipzig, 27. Mai 1883

Leipzig, den 27ten Mai | 1883.

Sehr geehrter Herr Professor!

In der hellsten Verzweiflung und denkbar größten Herzens-Beklommenheit gelange ich heute an Sie. Ich erhalte eben von einer einflußreichen Persönlichkeit in Jena ein Schreiben, worin mir mitgeteilt wird, daß auch Sie sich von mir abgewendet hätten, indem Sie in offener Gesellschaft eine Bemerkung gemacht haben sollen, deren Wortlaut mir zwar nicht genau angegeben werden konnte, aber deren Inhalt ungefähr Folgender gewesen sein soll: „Ich habe einen sehr tüchtigen Zoologen, nämlich meinen eigenen Assistenten vom Habilitiren hierselbst abgehalten und Empfehlungen in die Tropen gegeben, weil ich einen Brief aus Neapel bekommen habe, worin mir mitgeteilt wird, daß der Betreffende dort ein sehr liederliches Lebena, namentlich mit Frauenzimmern geführt habe. Das ist in meinen Augen schlimmer, als wenn Dr. Scheffler || aus Bruhin’s Schriften abgeschrieben hat etc.“. – Mein Freund fügt sodann beib: „Prof. Häckel hat Dich also nicht genannt, aber die Indizien ließen bei keinem der Anwesenden einen Zweifel aufkommen, c wer der Fragliche sei – alle Hörer haben es auf Dich gedeutet.“

Ich muß offen gestehen, dass ich nicht glauben mag, daß diese Bemerkung wirklich gefallen sei, dad Sie mir vor meinem Weggange mehr als einmal tröstend zugesagt hatten, keinem Menschen gegenüber die neapolitanische Denunziation zu berühren. Ist sie aber gefallen, dann darf ich mit dem irdischen Leben füglich quittiren, denn ich habe eine halbe Million Feinde über die ganze Welt, in den Tropen, wie hier, in jeder Stadt, in jedem Dorf – die ganze Freimaurerwelt. Was soll ich da weiter auf dieser Welt? –

Auf alle Fälle wird es gut sein, wenn ich Ihnen offen gestehe, worin eigentlich mein Verbrechen besteht: Sie sollen selbst urteilen, ob die Geschichte so arg ist, daß ich nicht mehr auf den Namen eines ehrbaren Mannes Anspruch || machen dürfte. Vielleicht würde es besser gewesen [sein], ich hätte Ihnen mündlich die Sache gleich bei Ausbruch der Katastrophe auseinandergesetzt. – Vorerst aber muß ich noch hervorheben, dass kein Mensch in Neapel genaue Auskunft über mein Verhalten zu geben vermag, die Herren an der Station am allerwenigsten, die sich ja von Anfang an nicht um mich bekümmerten und mich als räudig Schaf, das nicht einmal den Doctor gemacht, abseits traben ließen. Es wirft ein eigentümliches Licht auf diese Herren, dass nun gerade sie genau wissen wollen, was ich e verbrochen hätte und Details zu geben versprechen –: wenn sie etwas von der väterlichen Fürsorge, mit der sie sich jetzt brüsten, früher zu erkennen gegeben hätten, wie ich nach Neapel kam, würde uns beiden wohl der Spektakel erspart geblieben sein. Ich wiederhole also nochmals feierlichst und an Eidesstatt, daß weder Meyer, noch Eisig, noch Dohrn, noch Lang in der Lage ist, genaue Auskunft zu geben über meine Aufführung in Neapel – (abgesehen von der moralischen Competenz, die ich ihnen von vorneherein abspreche!) ||

Verlassen von meinen Fachleuten, die in mir einen dankbaren Schüler gefunden haben würden, sofern sie mich in ihrem privatem Umgange einiger Brosamen von ihrer wissenschaftlichen Tafel gewürdigt hätten, war ich gezwungen, meiner eigenen Wege zu gehen. Was war natürlicher, als daß ich mich um Land und Leute zu f interessiren begann und das neapolitanische Leben kennen zu lernen suchte? – So traf ich eines Abends beim Tanz in einer Botelleria eine Sorrenterin, Namens Marietta, die mich durch ihre Schönheit, namentlich aber durch ihren Mutterwitz und ihr zurückhaltendes Betragen anzog. Sie gab vor elternlos zu sein und sich als Confectioneuse kümmerlich, aber redlich zu ernähren. Auf mehrmahligen Zusammenkünften gewann ich einen sehr guten Eindruck von dem Mädchen. Ich begann sie zu lieben und gelangte schließlich soweit, daß ich mich ernsthaft mit dem Plane trug, Marietta zu heirathen und für immer in Italien zu bleiben. Es war eine Liebschaft, die meinerseits auf edler Basis ruhte, und vor der ich mich eigentlich nicht zu schämen brauchte – eine Liebschaft, || wie sie hunderte von Jenenser Studenten allsonntäglich auf dem Tanz in Löbstedt, Burgau, Lobeda, Kunitz, Zwätzen, Dornburg, Ammerbach, Roda, Kahla anknüpfen und ang denen in Jena in akademischen Kreisen h nichts Auffälliges gefunden wird, obschon es hier doch meist Dienstmädchen sind, aus denen sich das weibliche Publikum rekrutirt.

Während ich nun der aufrichtigen Liebe des Mädchens sicher zu sein glaubte, mußte ich eines Tages die Entdeckung machen, daß ich nicht der Alleinige war – ich merkte, daß mehrere Neapolitaner zu jeder Stunde bei ihr aus und ein giengen und es blieb mir kein Zweifel übrig, daß ich getäuscht und schändlich betrogen war: Marietta war eine routinirte Canaille, der um Geld alles feil war und die mich deutschen Michel über einige Monate an der Nase herumi geführt hatte. –

Die tiefe Wunde, die ich in meinem Herzen davontrug, wäre wahrlich Strafe &Lehre genug gewesen. Allein das Schicksal wollte es, daß ich in den Geruch kommen sollte, als hätte ich um den anderweitigenj Verkehr des schändlichen Mädchens gewußt: die Haare stehen mir zu Berge, || wenn ich die Scheußlichkeiten alle nennen soll, die man mir in die Schuhe schob! Die hundertzüngige Fama sorgte auch dafür, daß die Skandalgeschichte an die zoologische Station gelangte: da war ein gewisser Fischer, Namens Salvatore, dessen Liebhaberei es war, die Skandal-Colportage zu übernehmen und von Lang zu Dohrn, von Eisig zu Meyer zu tragen.

Ei, die erwünschte Gelegenheit nun für die gestrengen Herren (von denen der eine gerade wie weiland König Hiskias krank darniederlag), dem frechen Schweizer-Gelbschnabel das Leben unmöglich zu machen! Kein Zweifel, der mußte weg, um so mehr, als er es gewagt hatte, eine ernste gründliche Anatomie des Sipunculus fertig zu bringen und nun gar an Veröffentlichung dachte. Erlassen Sie mir, Ihnen alle die kleinlichen Intrigen vorzuführen, die gegen mich in’s Spiel gesetzt wurden. Fanden die Herren doch sogar Vergnügen daran, meine Visitenkarte, die ich im großen Laboratorium über meinem Aquarium hängen hatte, herunterk zu nehmen, herumzubieten und als Kriterium meiner completen Verrücktheit || anzuführen. –

Dohrn hatte indeß die Großmuth, mir durch Lang das Geld zur Heimreise vorstreckenl zu lassen, ein Anerbieten, das ich, um bald möglichst dem Wespennest zu entfliehen, nicht ausschlug. „Arm am Beutel, krank am Herzen“ kehrte ich zurück in die Schweiz. Das Geld hat Dohrn schon nach 3 Tagen wieder zurück erhalten: am liebsten würde ich ihm damit zugleich die ganze Erinnerung an meinen Aufenthalt in Neapel zurückgesendet haben.

Ich habe noch nachzuholen, daß eine innere Verletzung, die ich mir in der letzten Zeitm auf einer forcirten Vesuv-Tour geholt hatte – ich hatte in einer Nacht bei Gelegenheit eines kleinen Lava-Ausbruches den Weg von Neapel bis zum Observatorium hin & zurück gemacht – und die mich 2 Tage unter ärztliche Obhut stellte, ebenfalls Anlass gegeben hatte an der zoolog. Station zu den denkbar widrigsten Gerüchten.

Sie haben nun ein offenes, volles Geständniß meiner Sünden, wie ich es meinem leiblichen Vater gegenüber nicht besser thun könnte. Bin ich denn der schlechte Kerl, || dieses Scheusal, als das mich meine Feinde hinstellen? Mein Gewissen sagt mir laut, daß ich es nicht bin. Ich lege mein Schicksal in Ihre Hand: dort wohnen die schwarzen und die heitren Loose! Die Welt hat den Stab über mir gebrochen. Nur sie vermögen mich zu retten von dem sicheren Untergang, wenn Sie mich durch ein Wort des Trostes, der Ermuthigung wieder aufrichten, wenn Sie mir die Hand reichen über dieses schwere Unglück zu einem neuen Leben! – Wenn Sie aber schweigen, so wird es für n mich auch eine Antwort sein, die schlimmste, fürchterlichste; ich werde daraus schließen müßen, daß Sie mich aufgegeben haben, kein Vertrauen hegen zu meinem Charakter.

Ich bin enorm unglücklich, gebrochen, in allen Adern fiebert es. Wenn Ihnen daran liegt, mich zu retten, so möchte ich Sie ersuchen, mich umgehend aus dießer schrecklichen Ungewissheit zu ziehen. Für jede Zeile, für jedes Wort werde ich Ihnen dankbar sein!

Ihr ganz ergebener

Emil A. Göldi

Sternwartenstraße Nro 32II.

a eingef.: Leben; b eingef.: bei; c gestr: dass; d korr. aus: denn; e gestr.: g; f gestr.: bekü; g gestr.: von; eingef.: an; h gestr.: kei; i eingef.: herum; j eingef.: anderweitigen; k eingef.: herunter; l gestr.: anbieten; eingef.: vorstrecken; m eingef.: in der letzten Zeit; n gestr: d

 

Letter metadata

Genre
Recipient
Dating
27.05.1883
Place of origin
Country of origin
Destination
Jena
Possessing institution
EHA Jena
Signature
EHA Jena, A 414
ID
414