Anna Sethe an Ernst Haeckel, Berlin, 15./16. November 1859

Berlin den 15.11.59.

Guten Tag, Du böser Schatz, der Du Deine Aenni vergeblich auf einen Brief hast warten lassen, ich möchte Dich nicht in gleiche Lage versetzen, obgleich mir das Schreiben mit einem panaritium am 4ten Finger der rechten Hand und zwei Blutgeschwüren unter dem rechten Arm recht schwer wird. Du mußt also entschuldigen, wenn meine ohnehin schlechte Handschrift Dir heute besonders viel Mühe machen wird. Die dazu gehörigen häßlichen Schmerzen abgerechnet bin ich übrigens ganz wohl und munter, und Deine Eltern ebenfalls. Der Alte ist die Erkältung los, hört wie ein Jünger täglich sein Kolleg und mit der Alten wird es auch schon besser werden, wenn sie nur ein bischen mehr Egoismus besäße und sich pflegen ließ, wie Quincke und ich es für nöthig hielten. Du weißt selbst, wie unwahr sie ist, was ihren Körper und ihre Bedürfnisse und Wünsche betrifft; weit ärger treibt sie es aber noch mit ihren Schmerzen, die sie geradezu verschweigt und dadurch sehr schwer zu behandeln ist. Quinckes gewissenhafte Pflege und Behandlung lohnt sie eigentlich mit großem Undank, indem sie behauptet, es helfe doch Alles nichts, und irrthümlich versichert, sie habe einen Schlagtanfall [!] gehabt, worüber ich sie schon oft ausgelacht habe und Quincke gestern gründlich. Von mir sagt Letzterer: ich sei ein wurmstichiges Frauenzimmer, und Unrecht hat er nicht; schadet nichts, Deiner Aenni Herz ist kerngesund, wie das Deinige, lieber Erni. Ich kann mir nicht denken, daß Du nicht geschrieben haben solltest und müßte doppelt bedauern, wenn der letzte Brief verloren gegangen wäre, da er || ein Stück des Sicilianischen Tagebuchs enthalten wird, auf das ich sehr begierig bin. Ich komme eben vom Hafenplatz zurück, wo ich den ganzen Tag bei der Mutter war, die wegen Waschvergnügen meiner Unterstützung bedurfte, die freilich von dem Lazarus nur mangelhaft war. Da haben mir die hellen Coaksfeuer einen Gruß für Dich aufgetragen, die trotz der sich jagenden Schneeflocken lustig flackerten und mir die Trennung von dem Fensterplatz in meinem Zimmerchen schwer machten. O wie wonnig malte ich mir es aus, wenn ich dort wieder auf Deinem Schoß sitze und Du durch Deine lebendigen Schilderungen meiner Phantasie Flügel leihst nach all den reizenden Punkten, die Dein Fuß betreten, die die begeisterten Worte meines deutschen Jünglings gehört haben und ihm so viele glückliche, wenn auch sehnsüchtige Stunden bereitet haben. Während ich so träumte und in der Zukunft schwelgte, saß’st Du mit dem Herrn Clavier und dem Doktor französisch plaudernd zusammen, welche kleine Uebung Dich nicht gereuen wird. Mir war zu Muthe, als dächtest Du auch gerade an mich, was ja nicht unmöglich war und freudig bebte mein Herz bei diesem Gedanken. Schon die wenigen Stunden der letzten Nacht, die ich schlief, brachte ich mit Dir zusammen zu. Du warst wieder in der Heimath und wurdest so von vielen Freunden bestürmt, daß Du in der Zwischenzeit Dich immer ¼ Stündchen zu mir stahlst; das Haus war mir ganz unbekannt, weder Eueres noch unseres; doch könnte ich eine || Situation, wo wir auf der Stufe einer Treppe kauerten, malen. Das Schillerfest ist nun vorüber, das Wochenlang vorher und wahrscheinlich noch Wochenlang nachher die Zeitungen beschäftigt hat. Ich theile die Begeisterung für Schiller, wenn ich auch Goethe höher stelle, in dessen Werken man die Wahrheit, die edle, natürliche Menschlichkeit, die sein Ausgangspunkt waren gleichsam mit Händen greifen kann, während bei Schiller das Gefühl mächtig in Anspruch genommen wird und Phantasie nothwendig ist, um den großen Genius Schiller zu verstehen und seine Ideale in’s nackte Leben, in die natürliche Welt zu übersetzen. Klang und Inhalt seiner schönen Lieder haben mich von Neuem tief ergriffen, und nach und nach werde ich seine Dramen, in denen er Meister war, lesen. Ich glaube damit würdig den Liebling des deutschen Volkes zu feiern, als welcher er überall, in Deutschland, selbsta in Amerika durch Freiligrath, in Paris durch Meyerbeer, in London durch Kinkel durch Lied und Rede verherrlicht worden ist. Letzterer, der Freiheitsapostel macht auf den Geburtstag drei großer Männer an diesem Tage aufmerksam: Luthers, Schillers und Robert Blums und schließt fern von seinem Vaterlande, wo er auf englischem Boden ein glückliches Asyl gefunden hat mit den Worten: „ich bin stolz darauf ein Deutscher zu sein.“ Jetzt muß ich mein Poezy [?] machen, gleich bin ich wieder bei Dir. Diese Worte waren mir bekannt || aus Deinen Briefen, die Dir so oft im Süden, selbst in den genußreichsten Stunden über Deine Lippen kamen. Ehe ich Dir von der hiesigen Feier erzähle, muß ich noch vom Mittwoch berichten (sage mir aber aufrichtig im nächsten Brief, ob ich Dir nicht lästig falle mit meinem genauen Tagebuchb, das ich Dir in diesem Falle erspare). Gleich nach Tisch beendete ich den Brief an Dich; später hatten wir Besuch von Tante Gertrud, deren Gesellschaft verschmähend ich feine Wäsche im Balkonzimmer auswusch, wobei mich Quincke überraschte und mich bat, morgen der Grundsteinlegung von seinen Fenstern aus zuzusehen. Den Abend brachte ich bei Ohrtmanns in einer Damen-Gesellschaft zu, wo ich mich in Anbetracht dessen recht gut unterhielt, es wurde hübsch musicirt. Am anderen Morgen um 10 Uhr wanderten der Alte und ich zu Quinckes, wo sich schon eine Menge Verwandte versammelt hatten und ein reiches Frühstück bereit stand. Wenn ichc auch nicht die Rede von Krausnick und Prediger Sydow verstehen konnte, sah ich doch den mit viel Tannen umwunden [!] Säulen und Fahnen geschmückten Platz vor mir und die wogende Menschenmenge unter den Fenstern, die ihrer Berliner Natur nicht untreu gelegentlich beim Ersteigen von künstlichen Tribünen und Prügeleien Witze und Sticheleien bei der Hand hatten. Während von einem stark besetzten Männerchor das Lied an die Freude gesungen wurde, fand die Grundsteinlegung von dem Schiller-Denkmal statt mitten vor dem Schauspielhause. Sehr hübsch machte sich nachher der Zug der Gewerke, || die immer beim Grundstein die Fahnen senkten und ein lautes Hoch ausbrachten, und dann Alle bei Quinckes vorbeizogen. Der Alte hatte nicht so lange ausgehalten, und war schon vorher fortgegangen. Als die Menge sich etwas verlaufen hatte, ging ich auch heim, freilich nur auf ½ Stunde, weil ich den Mittag bei der Mutter aß. Abends hätte ich gern Wallensteins Lager und die Glocke gesehen, allein August, der 4 Billets für sich und Heinrich und mich bestellt hatte, erhielt nur zwei, weßhalb Heinrich und ich an der Schillerfeier bei Tante Bertha Theil nahmen, wo die Sethenschen Mädchen aus Potsdam einzelne Scenen aus Schillerschen Stücken aufführten sehr aus dem Stegreif und naiv. Vorher lasen wir zusammen Wallensteins Lager und waren dabei sehr vergnügt. In Punsch und Pfannkuchen wurde nächst Schiller Deiner lebhaft gedacht. Freitag 11 plättete ich den ganzen Vormittag, aß Mittags mit dem Alten zusammen bei Untzers eine Gans mit Mutter, Heinrich, Louis Jacobi und noch einem Neffen von Untzers: Lüdke zusammen. Um 6 Uhr sollten wir bei Helene sein, wo wöchentlich jeden Freitag in vertheilten Rollen gelesen werden soll. Die Zwischenzeit nach dem Kaffee bis dahin führte mich Louis Jacobi im Thiergarten spazieren, wonach ich schon lange Sehnsucht hatte. Doch muß ich Dir noch erzählen, wie niedlich wieder für unsere Wirthschaft gesorgt ist. Tante Julchen hat mir nämlich reizende Pfeffer- und Salzlöffel aus Berchdesgaden mitgebracht, die ich beim Kaffee geschenkt bekam.

Mittwoch Morgen ich fahre in meinem Gekritzel fort, so schlecht es auch geht. Gestern Abend haben wir die Sydowsche Weihrede bei der Grundsteinlegung gelesen, deren Kraft und Wahrheit und tiefe Begeisterung für unseren deutschen Dichter gerade von einem Theologen, die selbst diesen sittlich reinen, und darum nach meiner Ansicht Christen wegen seiner Ausschließung von den kirchlichen Gebräuchen verdammen, mir sehr gefallen hat. Ich bin überzeugt, Du würdest ebenso urtheilen; gern schrieb ich Dir die ganze Rede ab, allein der Cadavre erhebt Einspruch und das Herze wäre auch nicht stille bei dieser Raumverengung. Ein paar Worte muß ich Dir aber daraus anführen, weil ich dabei so lebhaft an meinen Erni dachte, auf den sie auch Anwendung fänden. „Nicht umsonst hat die Gottheit uns, den germanischen Stamm, hineingesetzt in das Herz unseres Welttheils, den germanischen Stamm mit dem tiefen, frommen Gemüth, und dem hellen Auge der Forschung, mit dem Mannesschwert des Kriegers und des Gedankens. Sie hat uns Männer genug gegeben, uns zu führen, und hat, der heutige Tag bezeugt es, uns auch nicht unempfindlich gemacht, es zu erkennen; aber unter allen gibt es keinen, den das gesammte Volk der Deutschen mit diesem einmüthigen, allverbreiteten Gefühl der tiefsterfahrenen Wirkung, mit dieser stolzen Freude den Seinen nennte, wie Schiller“ etc… Bei Helene lasen wir dann noch die Jungfrau von Orleans, ich die Johanna mit großer Begeisterung. Ich habe lange diese Dramen nicht gelesen, die wirklich sehr schöne Stellen enthalten. Du darfst nicht böse sein, lieber Erni, wenn ich hier abbreche u. herzliche Grüße von den beiden Alten u. Theodor bestelle, der sich eben zum Essen eingefunden hat. Nächstens bekommst Du einen besseren Brief von Deiner kaputen [!] Aenni. Bleib gesund und schreibe ja alle Sonntag; ein Sonnabend ohne Brief ist schrecklich.

[Adresse]

Al Signore Dottore Ernesto Haeckel

p. ad: Signore Mueller

Victoria Hotel

Messina (Sicile).

via Marseille

a eingef.: in Deutschland, selbst; b korr. aus: Tagesbuch; c eingef.: ich

Brief Metadaten

ID
34476
Gattung
Brief ohne Umschlag
Entstehungsort
Entstehungsland aktuell
Deutschland
Entstehungsland zeitgenössisch
Königreich Preußen
Zielort
Zielland
Italien
Datierung
16.11.1859
Sprache
Deutsch
Umfang Seiten
5
Umfang Blätter
3
Format
14,0 x 22,1 cm; 22,1 x 28,0 cm
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
A 34476
Zitiervorlage
Sethe, Anna an Haeckel, Ernst; Berlin; 16.11.1859; https://haeckel-briefwechsel-projekt.uni-jena.de/de/document/b_34476