Ernst Haeckel an Oscar Schmidt, Jena, 10. September 73

Jena 10 September 73

Lieber Freund!

Gestern von einer kleinen dreiwöchentlichen Excursion in die Schweiz zurückgekehrt, fand ich Deinen lieben Brief vor. Ich war bei schönem Wetter im Vorder Rheinthal, auf dem Furcahorn und Eggischhörn, um etwas Luft zu schnappen. Auf der Heimreise würde ich Dich jedenfalls in Straßburg besucht haben, hätte ich nicht schon hier erfahren, daß Du verreist wärest.

Über meine herrliche Orient-Reise auf der ich in jeder Beziehung außerordentlich Glück hatte, hoffe ich Dir bald etwas Gedrucktes schicken zu können, allerdings nicht in der Neuen freien Presse, die mit ihrem Begehren nach dem „Ausland“ u. A. hinterher kam und ohne eine Zusage ihre Dir bekannte Erklärung über Mitarbeiterschaft publicirte. ||

Im Sommer habe ich Viel mit der aus dem Orient mitgebrachten Sammlungen (besonders schönen Korallen aus dem rothem Meere; Tor) zu thun gehabt und wenig arbeiten können.

Jedoch wirst Du in einigen Wochen von mir zwei kleinere Aufsätze bekommen die jetzt gedruckt werden. Der eine „Zur Morphologie der Infusorien“ ist vorzüglich gegen den horriblen Unsinn des schwachköpfigen Greeff gerichtet und soll auf Grundlage der Ontogenie die Sieboldsche Auffassung von der Einzelligkeit der Infusorien stützen. Der andere, über die Homologie der Keimblätter, die Gastraea etc ist eine weitere Ausführung und Begründung der in der Calcispongien-Monographie niedergelegten Anschauungen, besonders des auf S. 464, 467 etc Gesagten. ||

Ich habe in diesem Sommer Ontogenie der Infusorien (besonders Heterotrichen u. Peritrichen) untersucht und bin dadurch zu einer vollen Übereinstimmung mit Steins bezügl. Angaben geführt worden. Es findet bestimmt keine Furchung, keine Keimblätter-Bildung statt; vielmehr entwickelt sich das Ciliat ganz direct aus der „Keimkugel“ oder dem „Ei“, unzweifelhaft eine einfache Zelle. Demnach habe ich die mit Dir getheilte Anschauung von der näheren Verwandtschaft der Infusorien u. Würmer ganz aufgegeben und bin überzeugt, daß auch hier die Gastrula (resp. Gastraea, phylogenetisch) eine scharfe Grenze zieht. Für alle Thiere nach Ausschluß der Protozoen ist gemeinsame Descendenz von der Gastraea, Homologie der Keimblätter und des Darms anzunehmen. Allen echten Protozoen (inclus. der Infusorien) fehlt diese völlig. ||

Je mehr ich über diese Verhätnisse nachgedacht habe, desto bedeutsamer erscheinen sie mir, als das wichtigste Nebenproduct, zu dem mich die Monographie der Kalkschwämme geführt hat. Auch Gegenbaur hält diese Homologie der Gastrula und der Keimblätter, die nur den Protozoen fehlt, für ganz fundamental und acceptirt die Auffassung.

Gegenbaur packt bereits. Sein Nachfolger Schwalbe soll ein guter Mikroskopiker sein, scheint sich aber, (wie Gegenbaur sich ausdrückt) „vollständig im Stande morphologischer Unschuld zu befinden“.

In Straßburg wirst Du die IV. Auflage meiner Schöpfungsgeschichte vorfinden, die ich Dir vor meiner Abreise schickte. – Den Rest der Ferien bleibe ich hier, da meine Frau nächstens ihre Entbindung erwartet. – Mit den herzlichsten Grüßen an Dich und die Deinigen

Dein treuer

Ernst Haeckel

Brief Metadaten

ID
32479
Gattung
Brief ohne Umschlag
Entstehungsort
Entstehungsland aktuell
Deutschland
Entstehungsland zeitgenössisch
Deutsches Reich
Datierung
10.09.1873
Sprache
Deutsch
Umfang Seiten
4
Umfang Blätter
2
Format
13,8 x 21,7 cm
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 32479
Zitiervorlage
Haeckel, Ernst an Schmidt, Oskar; Jena; 10.09.1873; https://haeckel-briefwechsel-projekt.uni-jena.de/de/document/b_32479