Ernst Haeckel an Herman George Scheffauer, Jena, 18. Mai 1913
Jena 18. Mai 1913.
a Lieber Herr Scheffauer!
Das Buch über Goethe von Houston Stuart Chamberlain habe ich nicht selbst gelesen, wohl aber zwei ausführliche Kritiken desselben; beide so ungünstig, dass sie mich von der Lektüre abschrecken. Das Buch soll eine durchaus subjektive und einseitige Darstellung von Goethes Charakter geben, in naturwissenschaftlichen Teil mit ungenügender Kenntnis der Tatsachen. Desselben Autors vielgelesenes Werk (vom orthodoxen Kaiser warm protegiert); „Grundlagen des 19. Jahrhunderts“ ist ebenfalls in wichtigen Fragen von christlich-dualistischen Vorurteilen beherrscht, einseitig und oberflächlich; aber der schöne Styl und die glänzende Darstellung bestechen viele Leser, wie bei einer „Schönen Predigt“!
In Biologischen Fragen urteilt H. S. Chamberlain als unwissender Laie; so ist ganz falsch seine oberflächliche Ansicht über das Verhältnis von Goethe zur Entwicklungslehre, Metamorphose etc. Absurd ist seine Behauptung, dass Bonnet (vor 150 Jahren!) bereits ein „Biographisches Grundgesetz“ gelehrt habe; dessen Grundgedanke, der intime Causal-Nexus zwischen Ontogenie und Phylogenie, konnte erst nach Begründung der letzteren entstehen (Generelle Morphologie 1866) . Der Antagonismus den Chamberlain gegen Darwinismus und Monismus zeigt, ist derselbe, wie bei katholischen und evangelischen Jesuiten, Keplerbunde etc. Mein „Sandalion“ (1910) besitzen Sie wohl?
Meine Gesundheit bessert sich nicht mehr. Die bösen Folgen des schweren, vor 2 Jahren erlittenen Unfalls hindern mich nicht bloss am Gehen und Reisen, sondern auch am Arbeiten. Aber mit 79 Jahren muss man sich an Resignation gewöhnen!
Unser Monismus macht inzwischen gute Fortschritte, besonders durch das active Praesidium von Prof. Wilhelm Ostwald („Monistisches Jahrhundert, Sonntags Predigtbuch“)
– Eine gute Darstellung von „Goethe als Naturforscher“ gibt Rudolf Magnus 1906 (Leipzig, A. Barth)
Mit herzlichen Grüssen an Sie und Ihre liebe Frau Gemahlin
treulichst Ihr alter
Ernst Haeckel.
a gestr.: Lieber Herr scheffauer!, b korr. aus: Ihre