Bergner, Franz

Franz Bergner an Ernst Haeckel, Zyrardow, 3. März 1913

Sittlichkeit!

Sittlich, unsittlich, Sünde, Strafe, Belohnung, Gut, Schlecht etc sind rein menschliche Auffassungen; alles das, überhaupt Alles gehört zu dem unterschiedslosen Sammelbegriff „Sein“.

Hier sei von einer menschlich gemeinten Sittlich- u. Unsittlichkeit gesprochen.

Die Welt ist unsittlichen, sündhaften Ursprungs u. jeder Mensch, jedes Geschöpf, jedes Ding ist unsittlich, denn alles Geschehne, alles Werden geschieht gerne, weil es bedingungsweise muß. Bei allem Geschehen sind die Bedingungen gegeben, sodaß es geschehen muß:

Die Kugel rollt gerne, wenn die Bedingung „geneigte Fläche“ gegeben ist. Das Wasser folgt gerne dem tiefer gelegenen; der Mond läuft gerne um die Erde u. mit ihr um die Sonne. Die Nachkommen der Geschöpfe werden gerne erzeugt; die erwärmte Luft steigt gerne in die Höhe; die Gewächse sprossen gerne im Frühjahr; der Sauerstoff geht gerne Verbindungen ein; das Eisen rostet gerne; der Raum wird gerne älter, anders, durch die Zeit; die Welt entstand gerne; die Zukunft kommt gerne der Gegenwart entgegen; wir wurden gerne erzeugt, tranken gerne Muttermilch, wir aßen gerne, spielten, liebten Kameradschaft etc. Alles das gieng wie von selbst, wie etwa das Wasser seinem Lauf folgt: Alles das lebt u. webt so, weil es muß. Unsere Verrichtungen, Handlungen, Empfindungen, Gedanken, unser Thun u. Lassen überhaupt in der Vergangenheit, wirkt gerne fort in der Gegenwart u. Zukunft: Aus durcheinanter, unbestimmten Richtungen, werden bestimmte; viele können verkümmern, andere dafür sich kräftigen u. auch eine Hauptrichtung hervorgehen, sodaß der eine Dichter wird, der andere Wein, Weib u. Gesang liebt, ein dritter religiös, eine anderer Parasied etc. Jede Handlung, jeder aufsteigende Gedanke läßt erkennen, daß der Mensch durch ihn mehr noch das wird, was er schon ist, der Dichter der z. B. seinen Weltschmerz bekämpft, wird dadurch nur mehr noch das was er schon ist d. h. es wächst der Dichter u. der Weltschmerz; selbst sein Sichdreinergeben, seine Resignationen wodurch er sich die Lage zu erleichtern scheint, sind Stösse, die ihn immer tiefer hineinbringen. Sein Erleichternwollen ist ein Erschweren. Trost wird seufzen etc. und dieser Zug erfüllt das Universum, er ist allgegenwärtig u. führt alles dem Gegensätzlichen entgegen. ||

Der überaus kluge Mensch ist sich dessen gar nicht bewußt, seine Klugheit führt ihn mit derselben Sicherheit dahin, wie das in der Nacht vom Feuer angelockte Insekt ins Feuer fliegt.

Der Mensch, sowie jedes Ding wird von den ihn umgebenden Dingen beeinflußt u. zur Veränderung veranlaßt, die er auch gerne eingeht: Jemand erhält z. B. eine Gehaltszulage, er freut sich, dadurch hat er sich verändert, so daß die Summe der Veränderung ein gleiches Quantum Gegensätzliches ergiebt: er weis das nicht u. würde gerne monatlich eine Gehaltserhöhung annehmen, er würde gerne reich werden, gerne angesehen sein, gerne allen möglichen aufsteigenden Trieben folgen etc er würde gerne sich verändern u. dadurch all dem Gegensätzlichen entgegen gehen. (Dasselbe gilt unterschiedslos von jedem Glück, jeder Freude, jedem schönen, angenehmen Gefühl.)

Was in der Natur, im Universum unbewußt vor sich geht, gieng auch unerkannt, unbewußt im Menschen vor: Er entstand gerne durch einen angenehmen Akt, er nahm gerne die zur Existenz nothwendige Nahrung auf; er folgte gerne seinen Neigungen, Trieben, die mittelst ihren kausalen Wirkungen das aus ihm bildeten, was er gegenwärtig ist. Das Universum wird gerne älter, anders u. wird gerne das was es ist; und dieses Werden müßte man unsittlich, Sünde nennen, wollte man von Sünde reden, denn alles einzelne, sowie das Ganze wird wieder bestraft, wollte man von Strafe reden, mit Vernichtung. Aus derselben Ursache sündigt der Mensch.

Es ist Sünde also daß eine Welt ist, u. daß sie besteht, denn die Entstehung u. Erhaltung geschah u. geschieht ja gerne, es geschieht gerne weil es nothwendig muß: da aber Sünden bestraft werden u. das Sein der Welt selbst eine Sünde ist, mithinn bestraft wird, so erkennen wir die Strafe darin, indem alles gestaltete, alle unmögliche, alles gegenwärtige Sein überhaupt wieder zerstört wird. Die sog. Sünde findet ihre Strafe, die Sühne darin indem der Innhalt, der Gehalt wieder zerstört wird.

Alles was wir sehen ist Sünde, denn es gieng aus derselben Ursache hervor, es entstand gerne, weil es bedingungsweise mußte. Da nun alles das was gerne geschieht, Sünde ist u. die Sünde bestraft wird indem der Innhalt, der Gehalt wieder zerstört wird, so ist die Welt Sünde. Vollkommene Sittlichkeit wäre nur wenn es keine Welt gäbe; Vollkommen sittlich würden wir, wenn wir keine Speise, Trank u. alles was wir gerne haben, gerne thun, annehmen würden: das aber wäre Vernichtung.

Wollen wir von einer Sittlich- oder Unsittlichkeit reden, so wären wir dann unsittlich, wenn wir etwas thun das uns angenehm ist, u. dann sittlich, wenn wir das gegensätzliche naturgemäß empfangen, empfinden: analog, wäre in der Natur dann das sittliche Moment eingetreten || wenn etwas seine Form, seine Gestalt u. Zeit eingebüßt hätte u. in einen anderen Zustande übergehen würde z. B. ein gestorbenes Geschöpf: aber dieses gestorbene Geschöpf oder sonst ein Ding, verändert die Natur mit eben derselben Liebe in eben demselben Tempo; sie verrichtet dieselbe unablässige Arbeit in dem ideal schönsten, wie im schmutzigsten Schmutz, sie arbeitet überall u. zu allen Zeiten. Die Natur ist somit ununterbrochen unsittlich: Der Raum (unter Raum begreife ich die Natur, das Weltall) wird durch die Zeit ununterbrochen älter, anders; die Zeit schafft gerne ununterbrochen Neues, zerstört ununterbrochen älter, anders; die Zeit schafft gerne ununterbrochen Neues, zerstört ununterbrochen wieder, sodaß sich Schuld u. Sühne die Wage halten. Wir sehen aus dem Nichts (Zeit u. Raum) das tatsächlich gegensätzliche Etwas (die Welt) hervorgehen: u. da immer aus dem Gegebenen das Gegensätzliche hervorgehen muß, so muß auch aus dem vollkommen sittlichen (dem Nichts, Zeit u. Raum) das unsittliche hervorgehen.

Zeit u. Raum an sich, sind die ganze, große, unendliche, vollkommene Sittlichkeit. Die Welten mit ihren unendlich vielen Dingen, sind die ganze, große, unendliche Unsittlichkeit; Aber diese große unendliche Unsittlichkeit ging aus dieser großen, unendlichen Sittlichkeit hervor. Sobald die Sittlichkeit (Zeit u. Raum) gegeben war, begann auf schon die Unsittlichkeit; das Älter-anderswerden.

Sobald etwas überhaupt gegeben wird, ist auch schon das Gegensätzliche mit gegeben.

Jetzt erst ist es möglich die sog. höchste Sittlichkeit zu üben indem wir das Weltgeschehen vollkommen erkennen.

Gelinde ausgedrückt, läuft die sittliche Religion der wahren Sittlichkeit zuwider, sie ist unvollkommen, und dem Wissen oder Unwissen eines Christus entsprechend. Es heißt z. B. Gott ist allgütig, allbarmherzig u. verzeiht wieder: Was kommt da dem schwachen, sündigen, unwissenden Menschen gelegener als solche Worte? Das ist ja eine Anleitung, ein Zuführen seinen Neigungen; ein Rath sich gehen zu lassen; ein vergessen des Vorsatzes, der sog. Sünde zu widerstehen; ein Nachgeben jeweiliger Stimmung; eine Sittlichkeit, die immer dann herrscht, wenn die Unsittlichkeit ruhen muß; ein schwankes [!] Rohr; ein Wiedereinreißen des schon aufgebauten; Eine Wurstigkeit ohne gleichen.

Die Natur ist nicht barmherzig, nicht gütig, sie läßt den Dingen ihren Lauf u. kennt keinen Unterschied zwischen Mensch u. sonst einem Ding.

Die höchste Sittlichkeit (von vollkommen kann nicht die Rede sein) kann nur die sein, im Stande zu sein allem angenehmen möglichst entgegen zu treten; nicht aber einen sog. Trost gleich aufschnappen und nach menschenart [!] verwerten wollen; denn dieser Trost (das angenehme) ist doch wieder unsittlich, wieder blos etwas angenehmes u. nichts weiter; dieser Trost ist wieder nur das, was in der Natur die Umwandlung eines Dinges in ein anderes ist. ||

Wir sehen nun, daß die gegenwärtige christliche Religion, die Sittenlehre, eine unwissenschaftliche ist u. der Werth nur darin besteht, indem sie eine Ahnung von einer wirklichen hat. Man hätte müssen Ahnung, Ahnung sein lassen u. nicht sein Dafürhalten, sein mangelhaftes Wissen gewaltsam darauf pflanzen.

Drews fragt: welches Motiv sittlicher Betätigung der Unreligiöse hat? Aus dieser Fragea ist zu schließen, daß die Menschheit immer noch nicht weiß, daß sämmtliche Religionen nur ein menschliches, unvollkommenes, halbes Wissen ist: Ein Gemenge von Wahrheit und Unwahrheit, Wissen und Unwissenheit.

Bergner

Zyrardow 3/3 1913

a eingef.: Frage

 

Letter metadata

Recipient
Dating
03.03.1913
Place of origin
Country of origin
Possessing institution
EHA Jena
Signature
A 7439
ID
7439