Anna Sethe an Ernst Haeckel, Berlin, 29. – 31. März 1860
Berlin 29. 3. Abends 9 Uhr.
Draußen schlägt der Regen gewaltig an die Fenster an, lieb Herz, und innen weint Deine Aenni mit dem Himmel um die Wette; sie ist besorgt um Dich wegen der Seefahrt und wird mit großer Sehnsucht den ersten Brief von Paris oder Marseille erwarten, der hoffentlich glückliche Überfahrt meldet. Noch weiß ich Dich in Messina und schon laße ich mich durch bange Sorgen niederdrücken – das ist nicht recht, und ich will sie zu verscheuchen suchen durch Plaudern mit Dir. Ich bin allein zu Haus; Heinrich hat sein Chambre-Kränzchen; Mutter und Sophie sind bei Tante Gertrud in einer kleinen Gesellschaft, der ich diesmal durch tüchtigen Husten und Schnupfen entgangen bin, indem Quincke a mir verboten hat,b Abends auszugehen. Du kennst den angenehmen Zustand, wenn man sich etwas wirr im Kopf und unbehaglich fühlt, wirst also vorkommende Unklarheiten und Dummheiten entschuldigen. Ist es mir doch ganz unheimlich und ungewohnt, in dieser Woche so spät an Dich zu schreiben, weil der Brief Dich doch erst Dienstag oder Mittwoch trifft. Hätte ich Zeit gefunden, hätte ich doch schon früher geschrieben, allein große General-Reinmacherei, wie sie die großen Feste zur Freude der Dienstboten mit sich bringen, hielt mich ab; jetzt blitzt aber auch mein Zimmerchen und wartet nur auf seinen Liebling, auf meinen Schatz, deßen freudig strahlende Augen ich schon oft in Gedanken vor mir sehe, wenn ich Abends in der Dämmerstunde an meinem Fenster sitze und in die flackernden Feuer blicke. Die Ungeduld wächst mit jedem Tage und die jubelnde Freude, nach Innen sich kehrend und stiller werdend, nimmt immerfort zu, so daß es mir geht, wie Dir, ich kann ihre höchste Höhe, ihr Ende und doch dann erst eigentlich Anfang nicht ausdenken und finde weder Gedanken, noch Ausdruck, mir das erste Wiedersehen auszumalen. Mischte sich jetzt nur nicht so oft der trübe Gedanke der gefährlichen Seefahrt hinein, || die die lebhafte, ohnehin jetzt aufgeregte Phantasie stets mit Sturm, Gefahren jeglicher Art, wohl gar Untergang begleitet. Gott empfehle ich Dich auf Deiner baldigen Fahrt. Meer und Wind werden Deiner Aenni Bitten und Wünsche nicht unerhört laßen, und ihren treuen, lieben Schatz glücklich an das französische Ufer tragen, wo er ihnen Lebewohl sagt und Paris und der Heimat zueilt. Dein letzter Brief war eine rechte Sonntagsfreude, die sich seitdem täglich erneuert hat. Aus Deinen lieben Zeilen spricht immer der alte, liebe, treue, edle, strebsame Erni, wie ich ihn liebe und achte. Ich bin froh, daß die häßlichen Packtage vorüber sind, obgleich morgen und übermorgen, die beiden letzten auf der schönen Insel, am blauen, duftigen Meer nicht viel beßer sein werden. Karl, der wieder einige Tage hier war und gerade kurz nach Empfang Deines Briefes zu uns kam, hat mir gleich den Brief an Peters besorgt und der an Max Schultze geht morgen oder übermorgen nach Bonn ab. Wenn nur Deine Mittelmeer-Schätze, Deine Lieblings-Thierchen und sonstigen Sachen glücklich überkommen und beßer, als es die drei Apfelsinenkisten, von den [!] wir bisher noch nichts gesehen haben. Karl läßt bitten, doch zu schreiben, durch welches Haus, Schiff und über welchen Hafen Du sie geschickt hast, damit man möglicher Weise noch nachfragen könne. Ich laße sie mir in Gedanken gut schmecken und ich will gern gegen den Geber darauf verzichten. Inzwischen wirst Du Deines Vaters Brief erhalten haben mit dem weiteren Urlaub bis Ende April und danach Deinen Aufenthalt in Paris einrichten, den Du im letzten Brief auf 8 – 14 Tage angibst. 8 Tage und noch mehr kannst Du doch nicht in Bonn rechnen und sonst weiß ich nicht, wie Deine Rückkehr mit Ende April eintrifft. Doch müde und matt, will ich einmal die Vernunft reden laßen und zu Bett gehen, schlaf süß und gut, wie ich Erquickung faße, um morgen fortfahren zu können. felicissima notte! ||
Da bin ich wieder 1 Uhr Mittags und will Dir über mein äußeres und inneres Leben in den letzten acht Tagen berichten. Beim guten Vorsatz ist es bis jetzt, 9 ½ Uhr Abends geblieben, da Störungen aller Art mich verhindert haben.
Dienstag 21 fuhren Helene, Sophie, Bertha Pien, Louis und ich zu Borsig heraus; leider fuhren wir, obgleich die milde Frühlingsluft sehr zum Wandern lockte, wie wir Beide es vor zwei Jahren gemacht haben. Der schöne Kamelienflor, die vielen Palmen, Farren etc. entzückten mich sehr, obgleich sie nicht den befriedigenden Eindruck, wie damals hinterließen; ich gab den kleinen Einzelheiten schuld, z. B. dem nicht so geschmackvollen Arrangement, dem fahleren Grün der Pflanzen und der scheinbar nicht so guten Pflege; glaube aber fast, ich muß den Grund tiefer suchen: die lichten Augen an meiner Seite, die munteren Schritte in meiner Nähe, der prüfende Blick, die begeisterten Ausbrüche, die laute Sehnsucht nach den Tropen fehlten mir, kurz mein Ein und Alles, bei dem ich mich allein selbst wieder finde. Die schöne Araucarie ist in ein kleines Gewächshaus im Garten gebracht worden, wo sie unter Lorbeeren und Cedern immer noch einen imposanten Eindruck macht. Nach einer Wanderung durch den Garten, in dem natürlich Alles noch im Winterschlaf lag gingen wir zu Fuß zu Haus und bei jedem Schritt erinnerte ich mich unseres Zusammenseins, dieses oder jenes Geräusches und stand plötzlich in Gedanken verloren vor dem Standbild des verstorbenen Königs, das Sophie nach seiner Entpuppung gezeigt werden sollte. Mit großem Vergnügen sah ich mir auch wieder das herrliche Piedestal an und wanderte dann heim. Abends besuchten wir Alle zusammen den Circus von Renz, wo ich ein paar sehr schöne Pferde sah, vortreffliche Gymnastiker und vor Allem einen Monsieur Léotard aus Paris fabelhafte Sprünge durch den ganzen Circus ausführen sah und das mit einer Leichtigkeit und Eleganz, daß man sich, was sonst so natürlich, nicht ängstigen || brauchte. Der Abend war wie der einer schönen Sommernacht und die freundlichen Sterne am Himmel wußten uns gar viel von Dir zu erzählen. Ich las noch in alten Briefen vor Tagesschluß.
Mittwoch 22 machte ich etliche Besorgungen in der Stadt, war auch bei den Alten und versprach Abends mit Mutter wiederzukommen. Nach dem Eßen hatte ich wie gewöhnlich Klavierstunde, arbeitete nachher noch und ging dann mit Mutter nach der Wilhelmstraße, wo der gemüthliche Theetisch die beiden Alten, Frau Lampert, die mir sehr gefällt, das Brautpaar undc uns Beide vereinigte. Letzteres war etwas lebendiger als gewöhnlich; als die Rede auf Seekrankheit kam, las ich ihnen Deine amüsante, schöne Reise von Livorno nach Civita vecchia vor und mehrere andere Briefe, um die mich Frau Lampert gebeten hatte. Deine Mutter, in sehr vergnüglicher, splendider Laune schenkte den beiden Bräuten feines leinenes Band, zur Ausstattungswäsche zu verwenden.
Donnerstag 23 hatte ich Schneiderstunde; machte vorher noch Besorgungen, und war in der Stunde selbst sehr in südliche Gedanken vertieft, so daß ich viele Neckereien ertragen mußte, die man sich auf Kosten seines lieben Schatzes schon gefallen laßen kann. Nach Tisch spielten Sophie und ich Quatre main: Die Ouvertüre zum Barbier von Sevilla, wobei jedes Mal die schönen vollen Töne der italienischen Sänger an meinem Ohr vorüberziehen, die mich wirklich damals hingerißen haben. Daß Du gar nicht einmal eine Oper besucht hast, ist doch gewißermaßen Unrecht; die Kehlen der Italiener sollen einmal wie zum Gesang geschaffen sein. In Paris wirst Du derartige Genüße nachholen, um Dir ein Bild von dem Leben und Geschmack des Volkes zu verschaffen. Donnerstag Abend wurden wir bei Helene auf Kartoffelpüfferchen traktirt und amüsirten uns sehr mit den Kindern, bis sie in’s Bett mußten, was mir auch schon wiederholt von Mutter empfohlen worden ist, drum gute Nacht, morgen fühle ich mich hoffentlich freier. ||
Freitag 24 gingen Theodor, Sophie und ich zu Rinvené [?] in die Bildergallerie, wo ich mich abermals sehr über die Meisterwerke freute, die ich schon mal mit Dir und Beckmann zusammen gesehen hatte. Vor Allem feßelte mich die Hildebrandtsche Mondscheinlandschaft mit dem anfangs wunderbar erscheinenden, aber sehr natürlichen Reflex des gelblichweißen Mondlichtes auf den Wellenkämmen, wie ich es schon oft in Mondscheinnächten in Heringsdorf beobachtet habe. In demselben Zimmer hängen die herzigen Genrebilder von Meyerheim, die in ihrer lebenswahren Naturtreue wirklich entzücken. Ich hätte der reizenden Thüringerin, die neben ihrer Kiepe mit Holzsachen sitzt und ihr gewonnenes Geld überzählt, gern die Hand gereicht und gegenüber dem prächtigen kleinen Buben einen Kuß gegeben, den die glückselige Mutter eben aus dem Bettchen genommen hat. Im Zimmer vorher ist Tiedemand ein paar Mal durch vortreffliche norwegische Genrestücke vertreten, denen in späteren Zimmern noch Landschaften folgen; er muß den eigenthümlichen Charakter Norwegens vortrefflich studirt haben und weiß ihn so gut in den Bildern wiederzugeben, daß man immer schon von Weitem Norwegen erkennt. Wir gingen nun herauf in den großen Saal, wo ein prächtiges Bild dem anderen folgt. Da ist das wunderschöne große Gallartsche Bild: der Zigeunerknabe, der das an ihn gelehnte Mädchen in Schlaf spielt; prächtige Tiedemandsche Landschaften, noch ein Meyerheim: der Kirchgang mit den allerliebsten Gesichtern der Dorfbewohner, und vor Allem die meisterhafte Weinprobe von Hasenclever, auf der die einzelnen Phisionomien [!] und die verschiedene Art, den Wein zu probiren, den ganzen Charakter spiegeln. Er selbst: Hasenclever ist ja auch in der Gallerie, von ihm selbst gemalt, im Hintergrunde steht auf einer || Staffelei die Weinprobe, die der Künstler demnach selbst für sein bestes Werk gehalten haben muß. Von da gingen wir noch ind zwei kleine Zimmer, wo ich damals mit Dir auch nicht gewesen bin, und wo ein kleines Bild Dich gewiß auch intereßirt haben würde. Auf einen Stuhl gelehnt, in Hemdsärmeln saß ein junger, hübscher Mann, der Niemand anders war, als Linné, so eben zurückgekehrt von einer Excursion, deren reiche Ausbeute: Blumen und Kräuter aller Art theilweis auf dem Tisch umher lagen, theils aus der geöffneten Botanisirtrommel am Boden hervorsahen. Das edele, feingeschnittene Gesicht, das er auf Deinem Kupferstich hat, spricht auch aus diesem Bilde, das ich mir für Dich mit eine ganze Weile angesehen habe. Etwas abgemattet vom vielen Stehen und Sehen, stärkten wir uns bei D’Heureuse durch eine Taße Chokolade, machten dann noch mehrere Besorgungen und theilten uns auf dem Rückweg; Theodor ging in die Behrenstraße, Sophie zu Haus und ich zu den Alten, wo ich noch einmal mit der Frau Lampert zusammen aß, die den nächsten Abend abreisen wollte. Ich blieb noch zum Kaffee dort und eilte dann nach Haus, wo ich, nachdem ich eine Stunde geübt hatte; mich anzog, um erst ein Gustav-Adolphs-Concert mitanzuhören und dann noch in Gesellschaft zu gehen. Das Concert war sehr schön; der Domchor sang einen Psalm und verschiedene geistliche Sachen, wobei die lange nicht gehörten Kinderstimmen sehr zur Geltung kamen. Außerdem sang er auch das reizende Schlummerlied von Geibel: Schon fängt es an zu dämmern – der Mond als Hirt erwacht etc, das bis dahin schon mein Liebling, es jetzt noch mehr geworden ist; ferner die beiden schönen Frühlingslieder von Mendelssohn: als ich die erste Primel erblickt, und o sanfter, || süßer Hauch, die ich beide schon als gemischtes Quintett kannte und die mir wie aus der Seele gesprochen waren. Der Frühling bringt mir Glück und Frieden, und mit ihm werde ich die alte Anna wieder werden. Außerdem spielte Herr Stahlknecht sehr schöne Sachen auf dem Violoncell, meinem Lieblingsinstrument, namentlich ein Ave Maria mit der Harfe: Herrn Grimm, begleitet, wobei ich im Geiste immer die spiegelglatte Meeresfläche mit einem Nachen, singende Menschen bergend, vor mir sah, wie ich dies Bild einmal in Heringsdorf bei köstlichem Sonnenuntergang fixirt habe. Auch Frau Seemann-Puéy [?], eine brillante Stimme von seltenem Umfang, sang wilde, leidenschaftliche spanische Volkslieder. So sehr mich das Concert entzückt hatte, so wenig war ich damit zufrieden, nicht nach Haus, sondern erst noch in Gesellschaft gehen zu müßen, obgleich ich die Wirthe: den Geheimrath Bodelschwing sehr gern habe. Die übrigen Leute waren mir meist unbekannt oder unintereßant. Georg Vincke war wegen Überhäufung mit Arbeiten leider ausgeblieben und nur seine hübsche, junge Frau dort; sehr amüsirt und im Stillen geärgert habe ich mich über eine Fräulein Wilckens, deren Mutter eine Römerin ist, welche erstere in Manier und Ansichten die echte Berliner Pflanze ist. Stoff zum Nachdenken und zu Bemerkungen gibt doch jede Gesellschaft, findet der Geist auch nicht die reichliche verlangte Nahrung. Hiermit tröstete ich mich schon oft und habe es auf diese Weise noch nie dahin gebracht, mich zu langweilen. Als Alles fort war, mußten wir uns noch gemüthlich etwas zu Bodelschwings hinsetzen und plaudern, wobei er und Heinrich drei Cigarren rauchten, auf diese Weise war es dann 12 ¾ Uhr geworden, ehe wir heimkehrten. ||
Sonnabend 25 war ich verdammt wieder den ganzen Vormittag Besorgungen zu machen mit Bertha Pien zusammen für Tante Bertha, noch dazu war es sehr rauhes, häßliches Wetter, das sich Nachmittag in Regen auflös’te. Trotzdem ließ ich mich nicht abhalten und führte einen lang entworfenen Plan aus, mit dem Du gewiß zufrieden bist. Nach 5 Uhr besuchte [uns] Kroll und seine Schwester, die aus Stettin hierher übergesiedelt, der, wie Du weißt, mit Marie Triest verheirathet war, die einen reizenden Jungen dem jungen Wittwer hinterlaßen hat, den ich noch gar nicht kannte. Wir waren so in’s Plaudern von Stettin und Dir hineingekommen, daß ich beinahe den Hauptzweck verfehlt hätte, die Weiß zu besuchen (Krolls wohnen nämlich auch in der Ritterstraße). Wie willkommen ich bei Deiner mütterlichen Freundin war, namentlich mit der grauen Mappe in der Hand, die meinen ganzen Reichthum birgt, brauche ich Dir wohl kaum zu sagen. Entzückt wie immer von Dir, hörte sie Deinen letzten Briefen zu, die ich ihr am allerliebsten vorlese, weil sie Dich versteht und prächtig mit meinen Ansichten über Dich harmonirt. Da müßen Dir von 7 – 10 Uhr die Ohren geklungen haben, denn da haben wir uns gegenseitig bei der Taße Thee unser Herz über Dich liebsten, besten Menschen der Welt ausgeschüttet. Ist mir auch sonst nicht jedes Urtheil über Dich gleichgültig, so lege ich auf das der Frau Weiß großen Werth, weil sie schon viele bedeutende Männer kennen gelernt hat und einen richtigen Blick, was Menschen, Charakter und Gemüth anbetrifft, besitzt. Sie überträgt die große Liebe zu Dir ganz auf mich, was mich wahrhaft rührt, weil ich fühle, ich verdiene sie nicht, weil ich nicht halb so gut, wie Du bin. Das mag sie vielleicht dazu bewegen, daß ich Dich innig und wahr liebe. || So aufgeregt und zerstreut war ich noch auf dem Heimwege von diesem netten, gemüthlichen Abend, daß ich zu Haus ankam ohne Strickzeug; daran warst Du Strick schuld, denn meine Gedanken waren nur bei Dir, anstatt sich manchmal in meiner nächsten Nähe aufzuhalten; schadet auch nichts; der Plunder kann ersetzt werden und möchte ich mir des dummen Strickzeugs willen um keinen Preis einen der lieben, herrlichen Gedanken rauben laßen, die immer in meiner Seele entstehen, wenn diese sich mit Dir beschäftigt.
Sonntag 25e erhielt ich Deinen letzten Brief, voller Sehnsucht und Ungeduld, worin ich mich ganz wieder finde, und die wir doch Beide noch bekämpfen müßen. Ganz unerwartet trat Schwager Karl in’s Zimmer, dem ich aus meinem Briefe vorlas und ihm das Tagebuch und Brief an Peters mitgab. Wir frühstückten Alle zusammen, holten Helene noch ab und besichtigten dann das Schloß, das Heinrich und Sophie Beide noch nicht gesehen hatten. Mich intereßirte am meisten die Bildergallerie, mit schönen, großen historischen Stücken: namentlich das der Königin Louise, die ungemein lieblich gewesen sein muß, und ein großes Bild von Blücher, das den Marschall Vorwärts mit seinem starren festen Willen vortrefflich wiedergibt. Auf dem Rückweg, auf dem uns Hagel bei hellem Sonnenschein (verfrühter April) überraschte, besuchte ich noch Tante Bertha, bei der ich Onkel Julius und Tante Adelheid fand. Zu Mittag aßen Jacobis bei uns mit den Kindern, denen ich nach Tisch Tänze vorspielen mußte. Nach dem Kaffee meldete ich Mutter, Sophie und mich bei Tante Bertha zum Abend an, die Besuch von Klara Wollard und den beiden Brunnemanschen Mädchen hatte, welche letztere von allen Seiten Glückwünsche zum Bruder Aßeßor entgegennahmen, der Tages zuvor sein drittes, letztes Examen glücklich bestanden hatte. || Als ich wieder herüber kam, besuchten Mutter und Helene Tante Julchen und als ich mich eben zum Ueben an’s Instrument gesetzt hatte, kam Herr von Ammon, der Sophie und mich über eine Stunde vortrefflich unterhielt, und darin später noch von Deinem Alten unterstützt wurde, der sich wunderte, keinen Brief von Dir erhalten zu haben und von mir die ihn intereßirenden Pack- und Reisenachrichten erhielt, da ich ihm das Couvert, mein specielles Eigenthum, nicht mitgeschickt hatte. Abends bei Tante Bertha war es nett und gemüthlich, wozu nicht wenig beitrug, daß Tante Gertrud, die sief auch mit ihrer Gesellschaft hatte beehren wollen, auf die Nachricht, daß wir kämen, Reißaus genommen hatten [!], worüber wir nicht böse waren.
Montag 26 war ich wirklich einmal den Vormittag still zu Haus und summte mir bei der Arbeit „des Lenzes blaue Lüfte“ etc. vor. Mittags aßen Dein Vater, Karl und Theodor bei uns; es ging sehr vergnügt zu, und als zwischen 5 und 6 Uhr sich Alles zerstreute, Sophie mit Helene in ein Ballet: die Weiberkuren ging, blieb Dein Alter bei Mutter und mir noch bis 7 Uhr sitzen und öffnete in bekannter Weise seine politische Wuthader gegen Junkers etc. gerichtet. Dann machten wir Beide uns auch auf, besuchten Brunnemans auf ein Stündchen, wo wir trotz des langen Versäumnisses herzlich willkommen waren und tranken dann bei den Alten mit dem Brautpaar, Karl, Dr. Eggers und Referendarius Junghans, der im vorigen Jahre in Freienwalde unter ihm gearbeitet hat, zusammen Thee. Dr. Eggers, mein Nachbar, unterhielt mich recht intereßant über Kunst und andere Sachen. Die Vorträge, die er allwöchentlich Donnerstags hält, sollen sehr gut sein, und hätte ich nicht so viel Hausarrest gehabt, würde ich ihn sicherlich in diesem Winter gehört haben. Das Brautpaar war still wie immer; ich glaube so schweigsam sind wir nie unter anderen Menschen gewesen, und werden es || nun nach so langer Trennung gewiß nicht sein.
Dienstag 27 bekamen wir oft Störungen bei der Arbeit durch Besuch. Schon um 1 ½ Uhr wurde gegeßen und zwar mit uns noch Onkel Gustav, Tante Gertrud und Louis Jacobi. Nach dem Eßen spielten Sophie und ich Quatre-main, um Onkel Gustav aufzuheitern, der wieder einen sehr krankhaften Eindruck macht. Tante Gertrud beglückte uns noch bis 7 [?] Uhr mit ihrer stets klagenden, unzufriedenen und nicht in der Stimmung befindlichen Persönlichkeit, wie sie sich immer ausdrückt. Abends waren wir still zu Haus, und arbeiteten und lasen zusammen.
Mittwoch 28 fand ich den ganzen Vormittag bei dem Reinigen des Eck- und meines Zimmers reichlich Beschäftigung in Bilderabwaschen, Blumenreinigen, Schränke ausstauben etc. lauter unangenehme Beschäftigungen, die ich mir stets durch angenehme Gedanken erleichtere. Du theilst also diese häßlichen Beschäftigungen, Du magst wollen oder nicht, und daß auf diese Weise manches Bild länger, als nöthig und manches Buch, eine Gabe von Dir, sorgfältiger abgestaubt wurde, weil ich hier und da hineinblicken mußte, ist wohl natürlich. Dennoch war ich froh, als es 1 Uhr schlug und wir uns zu Tisch setzten und um 2 Uhr hatte ich meine Klavierstunde. Zu dem Husten, der mich schon am Tag vorher gequält hatte, stellte sich auch noch ein Schnupfen ein, die mich seitdem ganz verwirrt und matt gemacht haben, so daß Quincke zu meinem großen Ärger heute wieder darauf bestanden hat, daß ich um 9 Uhr zu Bett gehen soll, eine Penitenz [!], die nur der fühlt, der schon lange wach im Bett gelegen hat und nun noch länger dazu verdammt ist. Alles Gegenreden und ärgerlich Werden hilft aber nichts; ich muß mich in mein Schicksal fügen, trotzdem ich überzeugt bin, darum die Erkältung nicht früher zu verlieren, und mein Arrondißement, mit dem es, || wie Quincke sagt, schwach stände, wird darum auch nicht beßer werden. Abends las mir Sophie Gedichte bei der Arbeit vor, da ich zum Lesen und Unterhalten unfähig war.
Donnerstag 29 besuchte ich Helene und fand den kleinen Hans so drollig und spielerig in seinem Bettchen, daß ich mich lange mit dem kleinen Schelm beschäftigte. Von da ging ich zur Schneiderstunde, wo ich aber lauter dummes Zeug machte, dieweil meine Gedanken bei Dir weilten und darum arg geneckt wurde. Auf dem Rückweg begleitete mich Herr von Ammon ein großes Stück und erzählte mir von der langweiligen Gewerbesteuerdebatte, aus der er eben kam und für die sie von Rechts wegen 6 Thaler statt 3 Thaler verdient hätten. Heute ist die letzte Kammersitzung vor den Osterferien gewesen, in der man einen Ausfall von Vincke auf das Herrenhaus erwartete, der gewiß nicht schonungslos sein wird, denn die Herren sind wirklich so bornirt reaktionär, daß gar nichts mit ihnen anzufangen ist, und daß die Kammern sich quälen mögen, wie sie wollen, im Herrenhaus geht nichts durch. Nach Tisch legte ich mich, sehr kaput auf’s Sopha und ließ mich von Sophie in Schlaf spielen, der mich aber durchaus nicht erquickt hatte. Ich wollte an Dich schreiben, konnte aber bei den unruhigen Vettern und Cousinen um mich herum nicht dazu kommen. Allerlei Besuch bemühte sich auch, mich in meiner Lieblingsbeschäftigung zu stören, die ich denn bis auf den Abend verschob, wo die Übrigen fort waren und ich so gut hätte mir Dir plaudern können, wenn mein Kopf nicht gar so dumm gewesen wäre und ich vor Sorgen um Dich während der Seefahrt bei den heftigen Frühlingsstürmen Ruhe zum Schreiben gefunden hätte. Jedermann redet mir die Angst aus, und Du würdest es gewiß auch thun; drum verspreche ich Dir ruhig zu bleiben, bis der erste Brief aus Frankreich eintrifft. || Sehr ärgerlich über mich und meine dummen Gefühle, ging ich bald nach 10 Uhr zu Bett, habe aber wenig geschlafen und tüchtig gehustet, worum Du Dich aber durchaus nicht ängstigen brauchst; wenn ich das von Dir dächte, würde ich Dir die Lapaille [!] gar nicht mitgetheilt haben. Ebenso sollte auch die Sorge in mir ruhen bleiben; doch ehe sie nicht heraus war aus dem Herzenswinkel, konnte ich gar nicht offen mit Dir plaudern, was denn schließlich das höchste Quantum erreicht hat.
Freitag 30 war ein unruhiger Tag, wo ich theils wegen Störungen von Außen, theils wegen Störungen durch den dummen Kadavre erst spätg Abend’s zum Schreiben kam. Tante Gertrud besuchte ich Nachmittag auf 2 Stündchen, da sie Abends vorher mein Ausbleiben nur meinem bösen Willen zugetraut hatte und sich schon lange beleidigt fühlte über meine spärlichen Besuche, was einfach seinen Grund darin hat, daß ich sie nicht leiden kann und weder zu ihr sprechen, noch ihrem Gewäsch zuhören kann. Ich weiß, Du billigst hierin meinen Geschmack und erkennst das Opfer an, das ich in diesem Besuch gebracht habe, der mir wirklich sauer geworden ist.
Heute bin ich spät aufgestanden, habe dann etwas an Dich geschrieben, und während Mutter mit Helene, Heinrich und Sophie mit schönen Kränzen nach dem h Kirchhof fuhren, um des Vaters Grab zu bekränzen, der heute vor drei Jahren uns genommen wurde, war ich bei Tante Bertha, die sehr lieb auf meine Stimmung einzugehen verstand und mir eine köstliche Predigt von Schleiermacher vorlas. Ich habe in diesen Tagen die schweren Tage des Jahres 57 wieder lebhaft durchlebt, [in]i denen Freude und Schmerz so dicht beianander [!] auftraten. Bei den Freuden der [ ]jgen Woche spielst Du eine große Rolle; wie vergnügt waren wir auf Annchens Taufe am 29 und ebenso am Tage nachher auf dem Spaziergange im Walde und ebenso am Abend zu Haus; selbst auf der Fahrt heute früh nach Berlin, wo während der Zeit zu Haus der liebe Vater schon mit dem Tode kämpfte. Über die dann folgenden Stunden nach der Ankunft hier in Berlin und Ankunft in Stettin, bin ich etwas unklar, da ich unfähig zum Faßen und Begreifen war über den Einen Gedanken, meinen Vater, den ich so unaussprechlich lieb hatte, in Gefahr zu wißen. Ich fand ihn todt und war schwer niedergebeugt, konnte aber erst den ganzen Verlust ermeßen, als aller Trouble vorüber war und das Haus öde und still geworden war. Ich habe seitdem ungeheuer an dem Vater entbehrt, und nur Du vermagst, ihn mir zu ersetzen, Du lieber, lieber Schatz, dem ich ganz und gar angehöre und der mich so sehr und innig liebt. Erni, wie werde ich nur ruhig die Stunde erwarten können, die Dich mir heim bringt; ich muß [mich] stark halten, um [mich] nicht von der unsäglichen Freude überwältigen zu laßen. Morgen trittst Du Deine Reise an; sei vorsichtig, lieber Schatz und laß Dich glücklich nach Marseille bringen; in Paris trifft Dich gleich mein Brief, den ich aus Vorsicht schon heute Sonnabend absende. Ein ganzes Paquet von Grüßen habe ich für Dich von Mutter, Deinen Alten (der Page war heute Morgen bei mir), Tante Bertha, der Weiß, Helene und Louis, die nebenan bei der Mutter sitzen und mich auslachen, daß ich schon heute meinen Brief absende. Genieße Paris so gut du kannst und setze Dich nicht zu sehr ab, namentlich Du es als Erholung betrachtest. Ich schreibe Dir bald wieder unter derselben Adreße und hoffe morgen auf einen Brief aus Messina recht bald nach dem ersten aus Frankreich. Innigen Gruß und Kuß von Deiner glücklichen Aenni. ||
[Adresse um 90 Grad nach links gedreht]
A Monsieur le Docteur E. Haeckel.
p. adr: Mrs. C. Roques et Compagnie
Paris
a gestr.: hat; b eingef.: hat,; c eingef.: und; d eingef.: in; e korr. aus: 26; f korr. aus: sich; g korr. aus: späts; h gestr.: Bahnhof; i Siegelausriss; Text sinngemäß ergänzt; j Siegelausriss