Ernst Haeckel an Charlotte und Carl Gottlob Haeckel, Würzburg, 18. Oktober 1855

Würzburg 18/10 früh

Liebe Eltern!

So begrüsse ich euch denn zum ersten mal wieder aus Würzburg! Wie ihr aus dem beiliegenden Brief an Tante Bertha, den ihr ihr ana ihrem Geburtstag geben mögt, ersehen werdet, kann ich mich hier noch gar nicht wieder einleben. Die Reiselust und Reiseunruhe steckt mir noch in allen Gliedern und läßt mich nicht zu ruhiger, steter Arbeit kommen, die doch so sehr Noth thut. Der Kontrast zwischen dem hiesigen, philiströsen Alltagsleben, in das ich nun wieder hinein muß, und der wundervollen Alpenwelt, die ich vor kurzem so herrlich genossen, ist aber auch in der That gar zu groß. Wie schrecklich eng, kleinlich, staubig und wurmförmig kömmt mir hier alles vor. Wie anders dagegen auf den erhabenen Bergen mit ihrer großartigen, ich möchte sagen, überirdischen Natur, wo der Mensch so ganz frei ist, so ganz sich selbst und sein kleinliches Alltagsleben vergißt. Gewiß liegt in dieser unbeschränkten Freiheit, in diesem göttlichen Selbstvergessen, nicht der kleinste Theil jenes unnennbaren Hochgefühls, das die Seele in den einsamsten großartigsten Stellen der Hochgebirgswelt unwiderstehlich zum Himmel emporzieht, so daß man wirklich dem Überirdischen, Göttlichen sich näher fühlt, als sonst. Je mehr ich mich jetzt hier abmühe, mich wieder in das alte Philisterleben einzuzwängen, desto mehr werde ich von Tag zu Tag inne, wie ungeheuer weit ich durch die Reise aus ihm herausgerissen, und in ganz andre und höhere Sphären des Denkens und Lebens hineingekommen bin. || Freilich hat mich andrerseits die lange Unterbrechung in den medicinischen Studien sehr zurückgebracht, und ich bemerke stündlich mit neuem Schrecken, wieviel ich inzwischen verschwitzt oder vergessen habe. Als ich gestern das dickleibige Handbuch der Materia medica, das schrecklichste Marterwerkzeug, das jemals der geistlose Quacksalbersinn praktischer Ärzte zur Qual des freien Geistes ersonnen hat, ein paar Stunden in der Hand gehalten und vergeblich die alten Reminiscenzen daraus mir zurückzurufen versucht hatte, gerieth ich wirklich fast in Verzweiflung und es hätte nicht viel gefehlt, so hätte ich urplötzlich mein Bündel geschnürt und wäre noch auf ein paar Tage zu euch nach Berlin gespritzt, wozu ich überhaupt seit ich wieder hier bin, fast stündlich mich versucht gefühlt habe und schon mehr als einmal, drauf und dran war, den tollen Gedanken auszuführen. Gar zu gern möchte ich euch jetzt mein übervolles Herz ausschütten und doch kann es nicht sein und ich muß schon bis Ostern warten. Die Lücken in meinen medicinischen Kenntnissen sind jetzt so großartig, daß mir eigentlich jede Secunde werthvoll sein sollte, um sie auszuflicken. Und doch kann ich mit aller Anstrengung die Gedanken noch nicht von der Reise sammeln und in das alte Joch zwingen. Hoffentlich wird es mit Anfang der Collegien und Cliniken besser! Mein einziger Trost ist jetzt Tschudis herrliches Buch über die Alpenwelt (das mir Karl geschenkt hat). Gestern stieß mir folgender Satz darin auf, der mir wie aus der Seele gesprochen war:

– „Wie die Berge hoch und einsam über das Flachland hinaufragen, so ragen die Gedanken Gottes, die in ihnen ruhen, über das alltägliche Leben und Gemüth, und wir würden wohl tief aufathmen und die Hüllen unserer so oft in kleinlicher Verbildung ruhenden Weltanschauungen brechen, wenn wir unseren Ideenkreis und unser Gemüthsleben öfter an jenen ewig schönen Originalien, an jenen krystallisirten Schöpfungsgedanken des Weltgeistes auffrischen und ausweiten wollten!“ – !! ||

Über meine Reise von München hieher habe ich euch nur sehr wenig zu schreiben. Nachdem ich München gründlich in 9 Tagen genossen (meist sehr gemüthlich mit Brummerstädt und Delius gebummelt) fuhr ich am 12/10 nach Nürnberg, wo ich Samstag 13/10 blieb und dann in der Nacht hieher reiste. b In Bamberg unterwegs traf ich unerwartet die beiden Gebrüder Hein, wie diese euch wohl schon erzählt haben werden. Ihnen gab ich auch den für Papa in Nürnberg gekauften Pfefferkuchen mit. –

Hierselbst wurde ich von meinen Wirthsleuten sehr freundlich empfangen, bei denen ich vorgestern (am Geburtstag der Wirthin) inc einem großartigen Festzweckessen Abends schwelgte. Auch Schenks und Leydigs empfingen mich sehr freundlich. Mein lieber guter Leydig ist jetzt endlich außerordentlicher Professor und glücklicher Ehemann. Gestern Nachmittag besuchte er mich auf meiner Bude! eine ungeheure Ehre!! Die Ausarbeitung der Reise werde ich beginnen, sobald ich die beiden Bände Schaubach und meine Reisenotizen wieder habe, welche ihr nach Empfang meines Münchner Briefs wohl schon abgeschickt habt.

An Karl werde ich dieser Tage schreiben.

Mimmi und die beiden lieben Jungelchens grüßt recht schön. Ebenso alle meine Freunde.

1000 herzliche Grüße von eurem

alten Ernst H.

homo alpinissimus, wie ich jetzt hier heiße. ||

Gestern habe ich Rechnungsabschluß über die Ausgaben meiner genau 9wöchentlichen Reise (vom Samstag 11 August bis Sonntag 14 Oktober) gemacht und dabei folgendes Resultat gefunden mit dem ihr hoffentlich zufrieden seid:

Gulden

Von Würzburg bis zum Traunsee

(von wo die Fußwanderung begann): vom 11/8 – 16/8 30

Vom Traunsee bis zum Gardasee

(Salzkammergut, Salzburg und Tyrol) vom 16/8 – 14/9 84

Vom Gardasee bis zum Wormser Joch

(Venedig, Lombardei und Schweiz) vom 14/9 – 26/9 56½

Vom Wormser Joch bis München vom 26/9 – 3/10 21

(Nordtyrol und Oberbaiern, Insbruck)

Von München bis Würzburg (und in München) vom 3/10 – 14/10 50

Summa 138 rℓ = 241½ fl

Davon gehen ab als nicht eigentlich zur Reise

gehörig, Ausgaben in München für antiquarische

medicinische Bücher, nothwendige Kleidungsstücke

und für landschaftliche Ansichten der durchreisten

Gegenden, sowie mitgebrachte Kleinigkeiten 24 rℓ = 42 fl.

Bleiben übrig als eigentliche Reisekosten 114 rℓ = 199½ fl

Als Rest vom Wechsel des Semesters hatte ich 8 rℓ

Karl brachte mir mit von euch 190 rℓ

Also habe ich gegenwärtig hier grade noch 198

-138

60 rℓ preussisch Courant

Einen Führer oder Pflanzenschlepper habe ich 8mal gehabt, was 16 fl kostete! –

a gestr.: zu; eingef.: an; b gestr.: Hier wurd; c gestr.: zu; eingef.: in; korr. aus: zu

Brief Metadaten

ID
41462
Gattung
Brief ohne Umschlag
Entstehungsort
Entstehungsland aktuell
Deutschland
Entstehungsland zeitgenössisch
Königreich Bayern
Datierung
18.10.1855
Sprache
Deutsch
Umfang Seiten
4
Umfang Blätter
2
Format
14,3 x 22,4 cm
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
A 41462
Beilagen
Brief an Tante Bertha
Zitiervorlage
Haeckel, Ernst an Haeckel, Carl Gottlob; Haeckel, Charlotte; Würzburg; 18.10.1855; https://haeckel-briefwechsel-projekt.uni-jena.de/de/document/b_41462