Ernst Haeckel an Wilhelm Ostwald, Jena, 9. Juni 1916
Herrn Pr. Dr. W. Ostwald (= Energie =)
Jena 9. Juni 1916
Lieber und verehrter Freund!
Aus Ihrem letzten freundlichen Briefe ersehe ich mit Freude, daß Sie sich in dieser schweren Zeit des Weltkrieges – trotz der andauernden schweren Sorgen und psychischen Gleichgewichts-Störungen – wohl befinden und Ihnen die Regenerations-Cur in Karlsbad gut bekommen ist.
Ihre schönen Untersuchungen zur Farbenlehre interessieren mich lebhaft, da mein einseitig ausgeprägter Farbensinn (in Verbindung mit dem morphologischen Formensinn) mit zunehmendem hohen Alter meine „Visuellen Instinkte“ immer mehr befriedigt; gerade in diesem herrlichen Frühling genieße ich die Farben-Freude in meinem kleinen Garten ganz besonders intensiv, und täglich neu. ||
In den letzten Monaten erhielt ich zahlreiche auswärtige Besuche von Freunden und Mitgliedern des Monistenbundes, welche Ihrer fünfjährigen eifrigen und verdienstvollen Tätigkeit als dessen Präsident mit aufrichtiger Dankbarkeit gedachten und lebhaft bedauerten, daß Sie diese wichtige Vertrauens-Stellung niedergelegt hatten. Zur Zeit ist ja die innere und äußere Lage unseres Bundes, wie diejenige vieler ähnlicher Vereine, sehr ungünstig. Ich bin aber fest überzeugt, daß nach dem erhofften Friedensschluß der Monismus neu gestärkt aufleben und auf der von Ihnen geebneten Bahn fruchtbare Fortschritte machen wird. In der Hoffnung Sie bald einmal wieder in Jena begrüßen zu können bleibe ich mit herzlichen Grüßen und besten Wünschen
Ihr treu ergebener
Ernst Haeckel.