Ernst Haeckel an Charlotte und Carl Gottlob Haeckel, Jena, 18. Februar 1865

Jena 18. Febr. 65.

Liebste Eltern!

Die schrecklichen Tage der Februarmitte sind endlich vorüber und ich kann Euch wieder beruhigter und fester schreiben. Schwere, furchtbar schwere Zeit war das wieder und ich mußte alle Kraft zusammen nehmen, um in dem furchtbaren Kampfe mit des Lebens bitterstem und tiefstem Schmerze nicht ganz zu unterliegen. Viel Manneskraft und Charakterfestigkeit habe ich in diesem traurigsten Lebensjahre gewonnen und doch schien sie kaum auszureichen, um die entsetzlichen Tage des schwersten Verlustes selbst zu tragen. Meine letzten Briefe schrieb ich Euch in sehr gefaßter und resignirter Stimmung, die auch jetzt ganz die vorherrschende bei mir ist. Ich beabsichtigte, die schweren Trauertage bei meinem treuen Freunde und des Schicksalsgenossen Gegenbaur zuzubringen. Als jedoch der bittere 16. Febr. selbst Heran nahte, fühlte ich wohl, daß ich nicht im Stande sein würde, hier auszuhalten, || und entschloß mich also rasch, an den Ort zu flüchten, wo ich allein stets Ruhe und Festigkeit wieder gewinne, in das freie Reich der gewaltigen Natur. Nach schriftlichem Abschiede von Gegenbaur und Schleicher schnürte ich am 15ten Febr. Mittags meinen Ranzen und machte mich auf die Wanderschaft in die Thüringer Berge und Wälder. Ich ging zunächst nach Kahla, ungewiß, ob ich mich nach Ziegenrück oder nach Schwarzburg wenden sollte. Doch entschloß ich mich zu letzterem, da ich in dem herrlichen Schwarzathale einen der beglücktesten, genußreichsten Tage meines Lebens zugebracht hatte. Diese unendlich lieblichen und reizenden Erinnerungen wurden recht lebhaft wieder aufgefrischt und halfen mir die bitteren Schmerzen mildern, die mir der Gedanke an das verflossene Jahr bereitete. Andererseits thaten auch die argen körperlichen Strapatzen das Ihrige dazu und endlich wirkte die wahrhaft großartige Einsamkeit der winterlichen Gebirgslandschaft wirklich erhebend, so daß ich den furchtbaren ||16. Febr. ruhiger und fester verlebte, als ich gefürchtet, und als es die Tage vorher der Fall war. Die beifolgenden Blätter schildern euch die Schneewanderung etwas ausführlicher.

Heute Morgen 5 Uhr bin ich, wenn auch sehr ermattet von den starken Anstrengungen, doch ganz gesund und innerlich viel beruhigter wieder in das öde Nest zurück gekehrt, das mir freilich nach jeder Rückkehr doppelt verödet und trostlos erscheint. Indessen finde ich mich doch immer mehr darein, da das Gefühl der Entsagung, und das Bewußtsein, daß alle Klagen das unwiederbringlich verlorene Glück nicht zurückführen können, immer mehr das Herrschende wird. Mein Arbeitsziel, das Feld meiner Thätigkeit, liegt ganz bestimmt vor mir gezeichnet da und in dem Bewußtsein, hier tüchtig fördernd wirksam sein zu können und zu müssen, finde ich selbst in dem schweren Augenblick noch Trost und Festigkeit, wo das bittere Gefühl des unendlichen Verlusts und der gänzlichen Vereinsamung mich niederdrücken will. ||

Für Eure lieben Briefe, liebste Eltern, die ich am 15. gar nicht erwartet hatte, die mir aber doch rechter Trost und rechte Freude waren, habt innigsten Dank. Behaltet mir ferner so Eure treue Elternliebe. Wenn wir auch in der speciellen Deutung der Erscheinungswelt vielfach aus einander gehen, so stimmen wir doch darin zusammen, daß wir dem einmal als Recht, Gut und Wahr Erkannten uns rückhaltlos hingeben und uns durch keine äußeren Einflüsse darin beirren lassen. So nehmt denn auch von mir als unumstößlich fest die Versicherung, daß ich dieses drückende Leben mit Kraft ertragen und die mir bestimmte Lebensspanne theuer verkaufen, d. h. alle mir zu Gebote stehenden Kräfte aufs Äußerste anstrengen werde, sie zum Besten des Fortschritts der Menschheit, namentlich in der Erkenntniß nutzbar zu machen. Bin ich einmal verpflichtet, des Daseins schweres Joch zu tragen, so will ich auch dauernde Spur davon zurücklassen. Entsagung und Muthige Thatkraft sollen meine leitenden Triebfedern sein und bleiben.

Dies sagt euch fest zu

Euer treuer Ernst.

Brief Metadaten

ID
38546
Gattung
Brief ohne Umschlag
Entstehungsort
Entstehungsland aktuell
Deutschland
Datierung
18.02.1865
Sprache
Deutsch
Umfang Seiten
4
Umfang Blätter
2
Format
13,7 x 22,0 cm
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 38546
Zitiervorlage
Haeckel, Ernst an Haeckel, Carl Gottlob; Haeckel, Charlotte; Jena; 18.02.1865; https://haeckel-briefwechsel-projekt.uni-jena.de/de/document/b_38546