Haeckel, Ernst

Ernst Haeckel an Anna Sethe, Berlin, 26./27. September 1858

Berlin Sonntag Morgen 26/9 58.

So eben erhalte ich Deine lieben, sehnlich erwarteten Zeilen, mein lieber Herzensschatz, und da darf ich mir denn wohl die besondere Sonntagsfreude erlauben, Müllers Archiv (aus dem ich jetzt fleißig excerpire) wegzulegen, und ein bischen mit Dir zu plaudern. Ist es ja doch schon so weit mit mir gekommen, daß ich eigentlich gar keine Freude mehr habe, die nicht mit Dir in irgend einer Art zusammenhängt. Was mir früher am meisten reizend und erwünscht schien, das ist mir jetzt gleichgültig, wenn es nicht auf Dich Bezug hat. Und Dinge, denen ich früher nicht die geringste Aufmerksamkeit schenkte, werden mir jetzt, weil Du Dich dafür interessirst, lieb und werth. Es ist wirklich ein wunderbares Ding um die Liebe, wie sie den Menschen umwandelt. Ich kenne mich wirklich selbst nicht mehr. Kaum bin ich jetzt von Dir fort, und denke nun schöne Muße zu fortlaufender Arbeit zu haben, so ist mir diese schon wieder ganz zerstückt; denn dazwischen tritt gleich wieder immerfort der Gedanke: Wann werde ich sie wiedersehen? Nur nach diesem Ziele wird die Zeit berechnet, nur nach ihm streben alle Gedanken sehnend hin. „Mein armer Kopf ist mir verrückt, mein armer Sinn ist mir zerstückt!“ Anna, meine Anna, was hast Du nur aus mir gemacht? Und wie soll das im nächsten Jahr werden? Mir schaudert bei dem Gedanken und ich wage ihn mit allen seinen schrecklichen Consequenzen gar nicht auszudenken. Wie soll ich Dich, mein ganzes, einziges Leben, ein ganzes Jahr entbehren können, Dich, von der mir jeder Trennungstag schon jetzt aus dem Leben gestrichen erscheint. O wenn Du wüßtest, wie bleischwer mich dieser Gedanke jetzt oft packt und niederdrückt, fast bis zum Ersticken! || Und doch muß es, muß es geschieden sein! Ich fühle nur zu sehr, wie nothwendig es ist, daß ich durch neue, große Kunst- und Natur-Eindrücke aus dem süßen Gefühlsleben, aus der schwärmerischen Traumwelt gerissen werde, in der ich jetzt ganz aufzugehen und zu zerfließen drohe. Was sollte wohl aus uns werden, wenn ich so, wie in den letzten Monaten fortlebte? Mir wird jetzt in der That zuweilen sehr bedenklich zu Muthe, wenn ich sehe, wie ich eigentlich in dem ganzen Sommer nur negative Fortschritte gemacht habe. Vergessen und verlernt die Masse! Und was das schlimmste ist, auch das alles andere in den Hintergrund drängende Interesse an der Wissenschaft, das mich sonst über alle rauhen Klippen leicht hinweghob, hat nun einem gewissen andern Interesse entschieden weichen müssen und steht erst hinter diesem in zweiter Linie. Und je mehr ich mich bemühe, den alten Studien ihren lieben Reiz wieder abzugewinnen, desto klarer fühle ich, daß ein weit mächtigeres Agens jetzt alle Sinne und Gedanken gefesselt hält! Indeß noch ist nicht Alles verloren und vielleicht gelingt es auch meinen schwachen Kräften, diese beiden mächtigen, jetzt um mich kämpfenden Principien, Liebe und Wissenschaft, wieder zu versöhnen und zu ihrer beiderseitigen Verherrlichung zu vereinen. Die Liebe soll mir Kraft und Ausdauer verleihen, im Dienst der Wissenschaft tapfer nach dem vorgesteckten Ziele zu ringen, und diese soll mir anderseits die Mittel in die Hand geben, jene zu belohnen und zu krönen. So, mein bestes Herz, wollen wir von der Italischen Reise Alles hoffen und auch das viele Schwere und Bittere, das sie mit sich bringt, gern und freudig ertragen im Hinblick auf die zu hoffenden Früchte. || Jetzt begleite ich Dicha mit in unsere reizende Solitude, wo wir heut vor 14 Tagen einen so wonnevollen Sonntag Morgen genossen, wie ich mir keinen zweiten zu erinnern weiß. Mein munteres, frisches Reh hüpft an meiner rechten Seite lustig und frei über Stein und Wurzel, schlüpft leicht durch Dornen und Dickicht. Da gehen wir bald über die frischbethaute Waldwiese, bald über die rothe, blumige Haide. Hier erfreuen alte graue Buchen und rothe Kiefernstämme mit malerischem grünen Dach unser Auge, dort jubeln wir über die hellen Sonnenstrahlen, die in der dichten, jungen Buchenschonung an den tausend weißen Stämmchen und den Millionen frischgrünen Blättchen sich brechen und zersplittern und überall hierhin und dorthin die herrlichsten Blicklichterchen und Schlagschatten ausstreuen, die bei jedem leisen Säuseln des Windes beweglich und fast lebendig hin und her tanzen und Leben und Licht in die dichten Waldmassen bringen. Jetzt setzen wir uns auf die grüne Moosbank, Du auf meinen Schoß und Dein wehender Athem, Deine warme Wange an der meinen verkünden mir in jeder wonnevollen Secunde das süße, unaussprechliche Glück, das ich in meinen Armen halte, fest und sicher, als könnte ich es nie, nie verlieren. Dann lagern wir uns auf meinen treuen, alten Plaid, in das natürliche Waldbett, mit trockenem Buchenlaub gepolstert, das seitlich am Abhang, am Fuß der beiden alten Stämme, für uns ausgehöhlt ist, und blicken durch die tausend kleinen und großen Lücken zwischen den runden grünen Blättern in den tiefblauen, wolkenlosen Himmel hinein, dessen helle Sonne das glücklichste Paar so wonnevoll bescheint, als freute sie sich mit ihm. || O Anna, das waren Augenblicke, die ich nie, nie vergessen werde, Augenblicke des höchsten, menschlichen Glücks, die glücklichsten darum, weil sich das Individuum selbst dabei ganz vergißt, sich rein und ganz ablöst von der schmutzigen befleckten Hülle der elenden Persönlichkeit, in die es gebannt ist, sich über sich selbst erhebt und ganz aufgeht in dem vollen und reinen Anschauen des Andern, im Genuß der absoluten Hingabe an das Andere. Man vergißt Himmel und Erde, Vergangenheit und Zukunft, man lebt rein und vollkommen in der Gegenwart; hier könnte selbst Faust rufen: „Verweile doch, Du bist so schön!“, den Augenblick zu fesseln suchen, der leider nur zu rasch entflieht. Ich kannte auch schon früher wohl solche Momente und Du wirst vielleicht in meiner Reise zuweilen daran erinnert werden. Wenn ich nach mehrtägigem, mühevollem Steigen und Klettern über Berg und Thal endlich einem höchsten Tauernpunkt mich genähert hatte, wenn ich durch Bäche und Waldsümpfe, über Stein und Fels, auf Gletschern und Schneefeldern schweißbedeckt und schwer bepackt hinaufgeklommen war, und nun, da der Kräftevorrath fast verbraucht war, da die Schenkel zitterten, die Kniee einknicken wollten, den Schultern die Last unerträglich war, wenn dann auf einmal der höchste Punkt erreicht war, wenn das befreite Auge, 8–9000 Fuß über dem Meer, weit über alles Menschengetreibe erhaben, mit einem einzigen, seligen Blick die Wunderwelt umfaßte, welche rings um in magischer, wunderbarer Größe, Schönheit und Mannigfaltigkeit das kleine Erdenrund bedeckte, wenn der Horizont von einem ganzen Lager von spitzen Eiszelten, der Mittelgrund von einem vollen Gewimmel von Bergkuppen, und die bunte Tiefe zu den Füßen mit Seen, Wäldern und Matten bunt durcheinander bedeckt war, || da, wo das kleine Selbstbewußtsein, von der Größe der Natur vernichtet, vollkommen in ihr aufging, da in solchen Momenten unmittelbarsten, großartigsten Naturgenusses war auch Alles, Alles Andere vergessen. Da war ich rein und vollkommen glücklich, weil ich mich rein und vollkommen dieser Größe hingab. Da war mit einem Schlag Müdigkeit, Schmerz und all das kleine und große Ungemach vergessen, ohne das sich solche Genüsse nicht erkämpfen lassen. Ich konnte nur jubeln und jauchzen und mein Entzücken in die Schluchten der Berge und die Schrunden der Gletscher hineinrufen. Und das Glück konnte da nur so vollkommen sein, weil ich mit meiner großen, einzigen Natur allein war, weil kein anderes menschliches Wesen durch seine störende Gegenwart, durch prosaische Einsprachen oder triviale Philistereien, die wundervolle Harmonieb störte und mich daran erinnerte, daß ich selbst zu dieser traurigen Race gehöre. Dieser letztere Zustand ist wesentlich. Ein einziger Mensch, selbst wenn er nicht spricht, kann mir schon bloß durch seine Erscheinung einen Genuß derart vollkommen stören und Disharmonie in das Bild bringen, die sich nicht wieder ausgleichen läßt. So ging es mir in Helgoland, in Nizza oft mit dem Meere. Wenn ich Abends ganze Stunden oben auf den zackigen, rothen Klippen verträumte, bald dem ewig neuen unveränderlichen Spiel der nie ermüdenden, brandenden Wellen an dem zerrissenen Ufer, bald dem wundervollen Farbenspiel der sinkenden Sonne auf der weiten unermeßlichen Fläche die mit den schönsten grünen, blauen, violetten Farbenringen geziert war, zuschaute, wenn dann eine unendliche, seelige Ruhe alles wilde Wogen der unruhigen Gedanken zu einem glatten Spiegel besänftigt hatte, dann konnten oft auch solche Momente seeligsten Selbstvergessens eintreten, in dem der Geist gleichsam nur ein Bild der ganzen Natur ist; – || Dann dauerte es aber leider gewöhnlich nicht lange, so kamen ein oder ein paar Menschen dazu (meist noch die schreckliche Abart, welche man Badegäste nennt) und störten die ganze Illusion, und man war mit einmal mitten auf den Boden der nüchternsten Wirklichkeit versetzt, zum traurigen Bewußtsein der eignen Persönlichkeit. Nicht minder schön und erhebend hat oft, wenn auch in anderer Art, die unmittelbare, volle Anschauung der Natur im kleinstem Raum auf meine Sinne gewirkt und mich über mich selbst erhoben, als ich nämlich zuerst durch mein großes Microscop in die zahllosen unendlich mannichfaltigen Wunder eingeführt wurde, die die Struktur der Pflanzen und Thiere in ihrem elementaren Zellenleben verbirgt. Auch da verliert sich oft der Geist vollkommen in der unbegreiflichen Größe und Vollendung der Natur und das bewußte Ich geht absolut auf in dem Versuche, diese Wunder zu begreifen, oder mindestens sie möglichst rein zu genießen. Nur mit diesen wonnevollen Augenblicken glücklichster Selbstvergessenheit, wie sie mir die Alpen, das Meer, die microscopische Wunderwelt, also die Natur in allen ihren reinsten und größten Offenbarungsformen, so oft und so selig gewährt hat, nur mit diesen kann ich auch diec unnennbare Wonne, das seelige Entzücken vergleichen, das mir Dein Besitz, Dein Genuß bereitet hat, mein bester, einziger Schatz. In Dir, in Deinem reinen, treuen, liebevollen Sinne gehe ich ja auch so ganz auf, mein Herz, daß alle anderen Gedanken, Gefühle, Regungen dabei schweigen und vergehen; wenn ich in Dein treues blaues Gedankenauge sehe, Deine warmen weichen Lippen fühle, Deine feste sichere Hand halte, dann weiß ich nichts von mir selbst mehr, ich bin ganz der Deine, und als solcher glücklich. Wie oft haben die wonnigen, herrlichen Glückstage in der Prachtnatur unseres Heringsdorfs dies mir so recht in die Seele gedrückt! ||

Montag 27/9.

Ich habe mit der Vollendung dieses Briefes bis heute gewartet, um Dir noch etwas von dem Eindruck mit schreiben zu können, den die Veröffentlichung unserer Verlobung auf meine Freunde hervorgebracht hat. Ich durfte nämlich erst heute früh zum ersten Mal ausgehen und da war denn mein erster Gang zu Hartmann. Dieser war, wie die meisten andern, sehr überrascht gewesen. Zwar hatten sie mich zuweilen, wenn ich im Sommer so zerstreut und verdreht war, mit Verliebtheit geneckt, aber doch nie ernstlich daran gedacht. Ihr erstes Gefühl, als sie nun die wirkliche species facti schwarz auf weiß sahen, scheint (wie ich richtig befürchtete) mehr Bedauern, als Überraschung gewesen zu sein. Wagener hat bloß geseufzt, und kopfschüttelnd gesagt: „Schade um den netten Jungen!“ – Lieberkühn hat stillgeschwiegen, Chamisso triumphirt, daß ich mich nun doch zum praktischen Arzt bequemt habe. Dieser letztere, nämlich der „praktische Arzt“ auf der Anzeige scheint allenthalben zu Nichts als Mißverständnissen Veranlassung gegeben zu haben, wie ich gleich anfangs fürchtete. Ich werde eine ganze Reihe Briefe zu schreiben haben, bloß um den Leuten begreiflich zu machen, daß ich nicht daran denke, mich durch die Verlobung zum med. prakt. degradiren zu lassen. Auch Hartmann hatte geglaubt, daß nun meine ganze akademische Carriére auf dem Spiele stünde, und daß ich zunächst die italische Reise ganz aufgeben würde. Erst als ich ihm Alles weitläufig auseinandergesetzt hatte, beruhigte er sich etwas, doch konnte er ein gewisses mißmuthiges Bedauern, das sich hinter seinem Glückwunsch versteckte, und das ich zwar sehr wohl begreiflich finde, das mich aber doch recht ärgerte, nur schlecht verbergen. Von Bezold wollte er mir gar Nichts sagen. Dieser scheint ganz betrübt darüber zu sein. Kurz, der allgemeinen Eindruck bei meinen nächsten Freunden ist ganz so, wie ich von Anfang an erwartet und weßhalb ich die Publikation so gern hinausgeschoben hätte, bis ich, auf einer solideren Basis stehend, mit einem tüchtigen Werke in der Hand, oder nach der Reise als Privatdocent, mit sichererem Blick in die Zukunft, ihren Befürchtungen hätte entgegentreten können. || Alle meinen, daß es nun mit dem Hauptzwecke meines Lebens so gut wie vorbei sei, daß ich nun so zerstreut und abgezogen werden würde, daß ich für die Wissenschaft nicht die Hälfte von dem leisten würde, was ich sonst ohne Braut wohl zu Stande gebracht hätte. Namentlich diejenigen, welche für das Project der großen Tropenreise mit mir schwärmten, sind natürlich sehr enttäuscht. Daß es „der dümmste Streich sei, den ich grade jetzt hätte thun können, wo mir die ganze Welt offen stand.“ scheint die Ansicht der Mehrzahl zu sein. Das fühlte ich auch durch die Gratulation der guten Tante Weiß wohl durch, obwohl sie in ihrer speciellen Vorliebe für ihren ungetreuen Liebling doch nicht es übers Herz bringen konnte, ihn gradezu auszuschelten, sondern wirklich so lieb, wie immer, war. Zufällig war sie grade den Nachmittag, bevor Tante Bertha die Anzeige erhielt, sehr lange bei ihr gewesen und hatte viel mit ihr über mich gesprochen, namentlich über ihre Lieblingsidee, daß ich zu einer glänzenden, großen Tropenreise ausersehen sei, und daß ihre ganze Sorge darauf gerichtet sei, daß mir nicht so ein Hinderniß, wie ein Liebchen, in den Weg käme und ihren Plan zu Schanden mache. d Tante Bertha hat dazu geschwiegen, und kein Wort gesagt, obwohl ihrs auf den Lippen gebrannt hat. Was mag nun die gute Tante Weiß gesagt und für Augen gemacht haben, als sie unmittelbar darauf die Anzeige erhielt, die doch alle diese Hoffnungen zerstörte? Wenn ich e noch so wär, wie vor ½ Jahr, so könnte mich jetzt dieser Sturm von Vorwürfen, grade von den Freunden, die mir am nächsten stehen, und am meisten wohl wollen, wirklich zur Verzweiflung bringen. Aber sei ruhig, mein liebster Schatz, so viel hast Du mich schon gebessert (oder, wie meine Freunde sagen würden, heruntergebracht), daß ich das Alles mit leidlich ruhiger Miene und gutem Muthe ertragen und anhören kann und ihnen nur erwidere, daß die Liebe das Alles trägt und überwindet. Hätte ich Dich nicht wirklich so unbeschreiblich lieb, du beste, herzigste Änni, daß Deine Liebe mir eben Alles Andere, auch was mir sonst das Wertheste war, aufwiegt, mir Alles ersetzt, so könnte ich mit meinem Verstand allein das nimmermehr ertragen. ||

Von meinem lieben Focke erhielt ich heute früh einen sehr netten Brief, der folgendermaßen anfängt: „Ernst H. verlobt – das ist ein völlig neuer Gedanke, der nicht in meine bisherige Weltanschauung hineinpaßt, der, um mit allen seinen Consequenzen durchgedacht zu werden, gewiß einen ebenso großen Aufwand von Scharfsinn erfordert, wie das schwierigste, philosophische Dogma!“ Nachher freut er sich aber doch recht herzlich darüber u. verlangt recht bald: „eine genaue Schilderung der Braut in optischer, akustischer, sensitiver und intellectueller Hinsicht.“ So denke ich, werden sich unter den vielen Trauernden gewiß auch noch manche Fröhliche finden, die nicht der Ansicht sind, daß ich mein Lebensglück verscherzt habe, wenn ich es gleich vielleicht zu kühn auf eine etwas unsichere Bahn hinaus, anders, als vorher gedacht, gewendet habe. Ach, wenn die Zweifler nur Dich alle kennten, mein liebes Schatzchen, wenn sie wüßten, was ich an Dir für ein liebevolles, treues, tiefes Gemüth, was für ein theilnehmendes, klares, reiches Naturgefühl besitze und genieße. Sie würden gewiß, wenn sie es wirklich recht gut mit mir meinten, ihre Trauer in Freude verkehren und würden mir nicht das arme Herz mit Vorwürfen und zweifelnden Sorgen belasten, die es alle selbst schon vorher durchgekostet und zuletzt doch glücklich überwunden hat. Ja, meine Anna, jetzt mußt Du mich ja allein aufrecht erhalten; Deine Liebe, Deine volle, reine Liebe ist ja die einzige, die letzte Waffe, mit der ich mich gegen diese bösen Angriffe des grübelnden Verstandes noch vertheidigen kann. Ich kann ihnen immer nur sagen: „Wartet doch nur erst ab, was daraus wird. Wartet, bis ihr sie gesehen und kennengelernt habt. Wartet, bis ich gezeigt habe, ob sich nicht beides vereinen läßt, und ob nicht die Wissenschaft doch neben der Liebe noch ihren Platz behaupten kann.“ || Darauf ist jetzt mein ganzes Streben und Ringen gerichtet. Hoffentlich ist die letzte und äußerste Anstrengung der Kraft nicht vergebens und ich mache Dich und mich noch ganz glücklich, unendlich viel glücklicher, als alle die kleingläubigen Zweifler jetzt sich träumen lassen. Darum laß Dichs nicht anfechten, mein treues, festes Lieb, halt Du fest und gut an Deinem Erni, und er wird auf Deine Liebe, auf Deine Hingebung gestützt, auch noch das Schwerste überwinden. Verlier nur Du den Muth nicht, so behalt ich ihn auch! –

Die netteste Gratulation, die ich bis jetzt zu empfangen hatte, war von Richter, der Donnerstag Nachmittag eigens dazu hereingekommen war, wirklich sehr überrascht und aufrichtig erfreut war. Er war sehr nett und erzählte mir viel von Dir, wie mobil und munter Du mit ihm in der schönen Natur herumgestrichen seiest. –

Von Hartmann ging ich heut früh zu Tante Bertha. Sie hat es sehr übel genommen, daß wir beide ihr gar nicht geschrieben haben, besonders aber, daß Du ihr überhaupt noch gar nicht von Heringsdorf geschrieben hättest. Thu das also bald, liebes Schatzchen. Aus Aurich sind heut auch Briefe angekommen; Tante Gertrud schreibt sehr rührend und übernimmt sich in zarten und verbindlichen Glückwünschen „für das liebe Brautpaar“ (?). Die Visiten, die jetzt täglich hier zur Gratulation kommen, halte ich mir möglichst vom Hals. Daß ich nicht sprechen soll, ist ein trefflicher Vorwand. Übrigens geht es mir viel besser. Seit gestern kann ich wieder ordentlich schlucken und essen. Nur die Zähne sind noch sehr dumm, so daß ich noch nicht f beißen und kauen kann. Aber in wenigen Tagen wird alles wieder gut sein. – Fast hätt ich Dich vergessen zu g loben, daß Du im letzten Brief so nett, fein und eng geschrieben hast, als Vorbereitung für Italien! Auch sonst hat er mich sehr erfreut; schreib nur recht bald wieder und ausführlich! Grüß mir den lieben, lieben Wald 1000 mal. Und unser Lieblingsplätzchen. Mutter nochmals herzlichen Gruß und Dank.

In treuer Liebe Dein E.

a eingef.: Dich; b eingef.: Harmonie; c eingef.: die; d gestr.: Was; e gestr.: so; f gestr.: essen; g gestr.: class

 

Letter metadata

Recipient
Dating
27.09.1858
Place of origin
Country of origin
Possessing institution
EHA Jena
Signature
A 38353
ID
38353