Heinrich Haeckel an Ernst Haeckel, Wijnendale, 10. Februar 1915

Schloß Wynendale, 10. II. 15

Liebster Onkel!

Welche Wandlung: vor einem Jahr durfte ich in Leipzig mit dir den 80. Geburtstag im tiefsten Frieden feiern, in der Vorstellung, daß ein ungetrübt ruhiges Alter dir bevorstünde, und dieses Jahr sende ich Dir meine herzlichsten Geburtstagswünsche mitten aus Feindesland, während fast andauernd der Geschützdonner von dem heiß umstrittenen Ysercanal, von Dixmuide, Nieuport und Yperen herüberrollt! Daß du das noch erlebst, die große Abrechnung mit unseren Gegnern und den Beginn einer neuen || Weltgestaltung nach der Niederringung Englands, und daß Du noch so frisch, mit scharfer Klinge und ungebrochener Kampfeslust in den Streit der Geister mit eingreifen kannst, das ist das schönste Geschenk, das dir dieser Geburtstag bringt. Wenn schon wir jüngeren den Göttern täglich danken müssen, daß wir diese große Zeit denkend miterleben, wie viel mehr erst du von der hohen Warte deiner Jahre! Wenn wir für jetzt auch im Schützengrabenkrieg still liegen und seit Monaten nicht vorwärts kommen, so sind hier alle, vom General bis zum letzten Mann absolut sicher des Erfolges, und || wenn man, wie es mir vergönnt ist, mitten in diesen prächtigen Menschen lebt, so kann ein Zweifel am endlichen Sieg nicht aufkommen. Fast scheint mir, daß in der Heimath die Ungeduld und das Fragen, wann geht es denn weiter?, viel größer sind, als hier draußen. Wenn man hier die unendlichen Schwierigkeiten vor Augen hat und dabei doch die großartig funktionirende Maschine unseres Heeres täglich sieht, so ist es Einem ganz selbstverständlich, daß es nicht mehr in den fliegenden Tempo der August- und Septembertage weiter gehen kann, daß eine Ruhepause nach den enormen Verlusten an Menschen, vor allem Offizieren, || an Munition und Kriegsmaterial durchaus nöthig ist, und da wir hier das ganze Elend des Krieges im Feindesland durchmachen, so kann man es ruhig aushalten, bis im Frühjahr mit aufgefüllten Regimentern und reichlichstem Ersatz von Granaten zum letzten entscheidenden Schlag auch auf diesem Theil des Kriegsschauplatzes ausgeholt werden kann.

Ein spaßiges Erlebniß knüpft sich hier auch an deinen vorjährigen Geburtstag. Ich war in Lille zu einer Ärzteversammlung; da redet mich auf der Straße ein älterer Oberstabsarzt aus Berlin an; ich kann || ihn nicht recht unterbringen, und frage ihn schließlich, wo wir uns denn früher gesehen haben. „Persönlich gesehen habe ich Sie noch nie, aber ich habe Sie anach dem Film erkannt,“ erwiderte er, „der in Leipzig im zoologischen Garten von Ihrem Vater (sic!) aufgenommen bund den nächsten Tag in der Monistenfeier in Berlin reproducirt wurde; ich bin nämlich begeisterter Monist.“

Wie es mir hier geht, hast du aus den Kriegsberichten erfahren, die hoffentlich richtig zu dir gelangt sind, und von denen ein weiterer in diesen Tagen abgeht, und der erzählen soll, daß wir jetzt in einem der schönsten Schlösser Belgiens mit wundervollem Park liegen, nach dem || anfangs sehr primitiven Quartier eine willkommene Abwechslung. Es ist merkwürdig, wie auch hier Anknüpfungen an frühere Zeiten sich ergeben. Ich liege in diesem Schloß zusammen mit unserem kommandirenden General, Excellenz v. Kathen. Es stellt sich heraus, daß sein Vater als pensionirter Major neben dem Hause meines Vaters in Freienwalde wohnte, daß er meine älteren Geschwister bis Anna sehr gut kannte, täglich mit ihnen gespielt hatte, und er entsann sich deutlich, wie er zu Weihnachten in unserem Hause war und vor dem Lichterbaum nicht sehr willig || Weihnachtsgedichte hersagen mußte.

Unter den Ärzten, mit denen ich in den Feldlazarethen zu operiren habe, fand ich 3 meiner früheren Assistenten vor, in einem auch Krehls Schwiegersohn, Prof. Schwenkenbecher aus Erfurt, jetzt cinnerer Kliniker der neuen Universität in Frankfurt a/M.

Nicht genug zu bewundern ist der unwiderstehliche Trieb aller älteren Offiziere und Ärzte, hier im Felde mitzuwirken für die große Sache, und oft in Stellungen, die weit unter derjenigen stehen, die sie früher eingenommen. Am bezeichnenden war die Antwort eines älteren Collegen, der eine blühende Praxis, Weib und Kind in || der Heimath zurückgelassen hatte und auf meine Frage, warum er eigentlich noch die Mißlichkeiten des Krieges auf sich genommen und freiwillig mitgezogen sei, antwortete: „Ich wäre zu Hause verrückt geworden!“

Nun lebe wohl, lieber Onkel; ich wünsche Dir, daß Du das gute Ende dieses Krieges und die Reifung der Frucht desselben in voller Frische erleben mögest. Mit herzlichen Grüßen an Tante Agnes und Meyers

stets Dein

alter Heinrich.

a gestr.: auf, eingef.: nach; b gestr.: wurde; c eingef.: innerer

Brief Metadaten

ID
35469
Gattung
Brief ohne Umschlag
Entstehungsort
Entstehungsland aktuell
Belgien
Entstehungsland zeitgenössisch
Belgien
Datierung
10.02.1915
Sprache
Deutsch
Umfang Seiten
8
Umfang Blätter
4
Format
13,4 x 21,4 cm
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 35469
Zitiervorlage
Haeckel, Heinrich an Haeckel, Ernst; Wijnendale; 10.02.1915; https://haeckel-briefwechsel-projekt.uni-jena.de/de/document/b_35469