Haeckel, Karl

Karl Haeckel an Ernst Haeckel, Ziegenrück, 25./26. Dezember 1853

Ziegenrück d. 25/12 53.

Lieber „Onkel Haeckel“!

Heute Abend erfreute uns die Ankunft – –

den 26 früh.

Ueber vorstehender Zeile war ich gestern Abend gegen 10 Uhr im wahrsten Sinne des Wortes eingenickt; Du darfst Dich daher nicht über die obige Schlaf-Hieroglyphenschrift, aus der

kein Lepsius klug werden möchte, weiter wundern. Heut habe ich mich, theils durch meinen krakehlenden Jungen aufgeweckt, theils durch eine falschgehende Uhr irre gemacht, zeitig aufgemacht, und schreibe Dir, liebes Bruderherz, jetzt in der großen Familien- und Kinderstube hinter dem Bettschrein, während Mamma auf dem großen Sopha unter dem Spiegel ihre seit 2 Uhr von dem kleinen Bengel gestörte Nachtruhe sucht, Miese-Mamma aber ihrem abgebrüllten Jungen die Brust giebt, an der er mit Wonne tutscht. Ja, was so ein Junge nicht das ganze Haus beherrscht! Gewöhnlich erhält er alle drei Stunden die Brust. Manchmal aber meldet er sich schon wieder, nachdem er nur eine Stunde lang geschlafen, und schreit dann, wenn er nicht gleich was bekommt stundenlang seinen beiden Mamma’s und dem mit in der Stube schlafenden Kindermädchen etwas vor. Uebrigens gedeiht das kleine Balg ganz prächtig, und guckt, namentlich, wenn er sich eben satt getrunken hat, ganz fidel in die Welt hinein mit seinen großen blauen Augen. Er fixirt jetzt schon die einzelnen Personen und Objekte, und es macht mir großen Spaß, daß er in dieser Beziehung sich wirklich schon entwickelt, wenn es auch natürlich in dem ersten || Vierteljahre mit der geistigen Entwickelung nur sehr langsam vorwärts geht. Ein solches kleines Wesen macht, wenn es um sich schaut, ganz den Eindruck, als ob sich‘s zunächst orientiren wollte in der unbekannten bunten Welt. Es verhält sich wesentlich receptiv und beschaulich. Und doch wenn es irgend etwas begehrt, welch bestimmter Wille spricht dann in dem verschiedenartigen Weinen des Kleinen sich aus! – Ganz anders, wenn er, um Nahrung flehend, nach der Mutterbrust verlangt, als wenn er über Waschen, oder a seinem nassen Windelzustand ungehalten, wie ärgerlich sein kleines Kehlchen ertönen läßt und borstig mit Händchen und Füßchen umhervagirt. Ich kann Dir nicht sagen, welches große Vergnügen mir jetzt schon die Beobachtung des kleinen Spatzes bereitet.

Mit seinem Blutgeschwür geht es ja, Gott sei Dank, bedeutend besser es ist in den letzten Tagen mehrmals aufgegangen und hat viel Unreinigkeit abgesondert. Die Geschwulst istb beinahe ganz zusammengesunken und die Stelle im besten Heilen begriffen. Die Ärmchen u. Beinchen sind ganz allerliebst weich und rundlich; Großmamma und Doktor behaupten, Er habe auch eine besonders schöne Schädelbildung; kurz, Alles ist von dem kleinen Wesen eingenommen.

Unsre Hausordnung stellt sich nun auch wieder mehr und mehr her. In der großen Stube „für Alles“ wird jetzt täglich zu Mittag und Abend mit dem recht rasch sich erholenden Frauchen gegessen, seit gestern auch, – und zwar mit der bestgerathenen Stolle, gefrühstückt. Die Doktorin ist seit 8 Tagen schon öfter auf kurze Zeit oben gewesen. Gestern waren sämtliche Doktors, und anfangs auch Herr Harras, mehrere Stunden zum Kaffe bei uns. Gegen ½6 Uhr kam Deine Schachtel, die Du zum großen Glück nicht früher || abgeschickt hast, weil sie sonst vielleicht am 23sten Abends, wo der Post zwischen Neustadt und Poesneck mehrere Weihnachtspakete entwandt worden sind, ebenfalls in unrechte Hände gelangt wäre. Wir vielen gleich über Deine Briefe her und lasen sie mit großem Interesse. Du armer Junge! Hast mal wieder eine solche katzenjämmerliche Stimmung durchzumachen! Verzage nur nicht, laß Dich nicht durch die ersten mißlingenden Anfänge abschrecken, und bedenke immer, welch‘ seeliges Gefühl es sein muß, einen Menschen durch die eigne Behandlung von schweren Leiden zu befreien. Könnt Ihr nun auch in so manchem Falle mit Eurer Kunst nichts ausrichten, so müßt Ihr doch dabei bedenken, daß ein jedes menschliches Wirken nur Stückwerk ist, und daß z. B. der Kriminalrichter und der Geschworene oft ebenso lebhaft wie ihr beklagen können, nicht allwissend zu sein. Du theilst also in dieser Beziehung nur das Loos Deiner Mitmenschen und wirst Dich mit der Unvollkommenheit Deines Berufs am leichtesten aussöhnen können, wenn Du auch in den Grenzen, die unserer Erkenntniß gesteckt ist [!], die weise Fügung des Schöpfers erblickst. Den Ekel, den Du jetzt noch vor so manchem medizinischen Experiment empfindest, wirst Du aber am ersten verlieren, wenn Du selbst Dich nicht mehr den einzelnen Operationen gegenüber passiv verhältst, sondern thätig Hand ans Werk legst. Dann stellt sich bald die geschäftliche Abhärtung des Gefühlslebens ein, die ein Jeder in seinem Berufe braucht und die man erlangen kann, ohne deshalb einer Abstumpfung der edleren und feineren Gefühle sich hingeben zu müssen. ||

Deine Geschenke haben uns viel Freude gemacht, und Dir, als Du dieselben für uns zusammen suchtest, gewiß nicht weniger. Herzlichen Dank, lieber Bruder für den Cotta; Du hast damit einen stillen Wunsch von mir erfüllt, den ich faßte, als mir dies Buch vor Jahren einmal zur Ansicht zugeschickt wurde. Es schlägt gerade in meine Passion ein. – In aller Eile hatte ich endlich vergessen, Dir zu schreiben, Du möchtest mir ja zu Weihnachten nichts schicken, da ich ja schon den Tschudi von Dir eben erhalten hätte. Nun wollen wir die Sache anders ausgleichen. Du erhältst von mir den Tschudi als Geburtstags- und Weihnachtsgeschenk. Ich habe aber bis dato nur die erste Lieferung hier, die Du vermuthlich schon kennst, und spare mir daher die Uebersendung auf, bis einige Lieferungen zusammen sind. Ich kann sie ja vorher lesen und in Deine Bibliothek paßt das Buch ohnehin besser hinein, als in die meinige.

So leid es uns thut, daß du zum Fest nicht hast kommen können, so kann ich‘s Dir, da die Professoren nur so wenig Tage aussetzen, doch nicht verdenken. Nun fragt sich‘s weiter, ob Du dafür nicht zur Taufe kommen willst, zu der Du hiermit feierlichst eingeladen bist. Sie wird Mitte Januar sein. Das Datum erfährst Du noch näher. Schreib uns aber recht bald, ob Du kommst, da darnach die Einrichtungen getroffen werden. Platz ist da und daß Du sehr gern hier gesehen wirst, darüber verliere ich kein Wort.

Mutter packt jetzt die Stolle, zu der ich Dir Guten Appetit und einen wohlconditionirten Magen wünsche ein. Sie und Mimmi lassen recht herzlich danken und grüßen, so wie Dich von Herzen grüßt und Dir ein munteres Neujahr wünscht Dein Karl.c

Nach einigen Bummeltagen werde ich nun tüchtig an die Akten gehen.d

a gestr.: sich; b irrtüml.: in; c Text weiter am Rand von S. 4: Herzen grüßt … Dein Karl.; d Text weiter am Rand von S. 3: Nach einigen … Akten gehen.

 

Letter metadata

Author
Recipient
Dating
26.12.1853
Place of origin
Country of origin
Possessing institution
EHA Jena
Signature
EHA Jena, A 35422
ID
35422