Karl Haeckel an Ernst Haeckel, Freienwalde, 25. April 1861
Freienwalde
25 April 1861.
Lieber Bruder
Da ich vermuthe, daß meine letzten Zeilen nach Berlin Dich nicht mehr dort getroffen haben, so sage ich Dir nach Deinem neuen Wohnort diesen ersten Gruß. Du hast ja immer das Schicksal gehabt von Deinem älteren Bruder gehoffmeistert zu werden. Laß Dir’s daher auch jetzt gefallen, wenn ich Dir einige gutgemeinte Rathschläge mit auf den Weg gebe.
Du trittst zum ersten Male als Dozent in einen bestimmten Wirkungskreis. Nimm mit Ueberlegung u. Zurückhaltung in der ersten Zeit, Deine Stellung zu Kollegen und Schülern. Wirf Dich nach keiner Seite hin weg; ohne deshalb Dein natürliches offenes Wesen aufzugeben, laß den Verkehr nach beiden Seiten hin mehr an Dich kommen, als daß || Du ihn suchst. Fachgenossen gegenüber sobald sie älter und sonst tüchtig sind, tritt nicht prätentiös bei Meinungsverschiedenheiten auf; sei lieber zu bescheiden als anmaßend. In geselliger Beziehung wirst Du, hoff’ ich, grad in Jena angenehmen Umgang auch mit anderen gebildeten u. gelehrten Leuten außer Deinen Berufsgenossen finden. Vermeide diesen nicht. Suche vielmehr in Deiner allgemeinen Bildung dadurch die Lücken allmählich auszufüllen, die Du – ich thue Dir mit diesem Urtheil wohl nicht so Unrecht – während Deiner vorzugsweise dem Fachstudium gewidmeten Universitätszeit hast sich bilden lassen, namentlich im geschichtlich-politischen Felde.
Sitzest Du in Deinen Kollegien erst fest u. hast mehr Muße, so solltest Du doch, wenn irgend möglich noch einige philosophische Vorlesungen von Cuno Fischer der grade als Docent bedeutend sein soll, hören. Es würde Dir das später || sicherlich auch für Deine Fachstudien von großem Nutzen sein. – Und um nun das Kapitel dieser aphoristischen Winke würdig im Sinne unsrer guten Mama zu schließen – überochse Dich nicht! –
Sitz’ nicht bis in die Nächte hinein u. gönne Dir immer die nöthige Erholung! – Im Uebrigen wünsche ich Dir aus vollem Herzen Glück u. Segen zu Deinen ersten Vorlesungen und einen, wenn auch bescheidenen, doch dankbaren und ermunternd auf Dich wirkenden Zuhörerkreis. Hoffentlich höre ich über Berlin bald etwas von Deinem ersten Debüt; jedenfalls, wenn Anna u. Mutter herkommen – u. das soll ja spätestens am 8t. kommenden Monats sein.
Hast Du dort etwas davon gehört, ob Esmarch Aussicht hat auf die Kandidatenliste zur Wiederbesetzung || einer durch Guyet‘s Tod vakant gewordenen Professur zu kommen? Seine Schwiegerältern scheinen es sehr zu wünschen. Wirst Du zufällig nach ihm gefragt, so denke daran, daß vielleicht so was im Werke ist u. spricha Dich günstig über ihn aus. Es sollte mich auch für Dich sehr freuen, wenn er hinkäme; ich glaube Ihr paßt zusammen, wenn Ihr auch manchmal mit den Köpfen an einander rennen würdet.
Bei uns hier geht es gut. Ich habe seit gestern an Grieben’s Stelle, der vor vierzehn Tagen wegen Schreibekrampfs auf 3 Monate ausgespannt hat, u. in das neumodische „römische Bad“ bei Wittenberg gehen soll, einen interimistischen Kollegen in der Person eines Assessors Herms bekommen, und kann mich nun von der 14tägigen Vertretung Griebens, währendb welcher ich tüchtig zu thun hatte, wieder erholen. Mimmi ist munter, auch desgleichen die Bälger, der kleine Krauskopf u. Mariechen sind jetztc || allerliebst. – Grüße E. Reimer u. Hr. Petzold, auch Dr Roeßler u. H Frommann wenn Du sie siehst. Kommst Du mit Prof. Kieser zu-d||sammen, so frage doch mal, was Krukenberg macht. Ade in altere || Liebe Dein treuer Bruder Karl.
Mimmi grüßt schön.f
a korr. aus: spricht; b gestr.: ,; c Text weiter auf dem linken Seitenrand: desgleichen die Bälger … sind jetzt; d Text weiter auf dem linken Rand von S. 3: allerliebst.– …Prof. Kieser zu-; e Text weiter auf dem linken Rand von S. 2: sammen, so … in alter; f Text weiter auf dem linken Rand von S. 1: Liebe Dein … grüßt schön.