Ernst Weiß an Ernst Haeckel, Schkeuditz, 23. Dezember 1854
Schkeuditz d. 23/12 54.
Mein lieber, lieber Häckel!
Schon seit 6 Wochen oder darüber liegt der erste Bogen da, ohne daß ich es über mich gewinnen konnte eine Fortsetzung folgen zu lassen. Hast Du Dich durch ihn hindurch gewürgt, so wirst Du wohl einiger Maßen einsehen, warum ich es nicht konnte: ich versprach zuletzt, von dem traurigen Thema abzulassen; – aber die Gedanken thaten das doch nicht, u. ich wollte nicht noch einmal von vorn anfangen. Du wirst Dich übrigens in dem ausgesprochenen Zustande meines Innern wohl bald orientiren können; da er dem Deinen ausa frühern Zeiten nicht unähnlich ist (Katzenjammer, oder bei mir muß ich vielmehr sagen Überzeugung, daß aus mir doch nie was werden kann). Außer diesem, daß ich jene Stimmung abwarten wollte, so sehnte ich mich auch von Tage zu Tage mehr nach einem Briefe von Dir; ja ich ängstigte mich bisweilen, setzte mich auch mehrere Male hin, um Dich um einen Brief zu bitten: doch es war immer unmöglich, der Feder auch nur ein vernünftig Wort auszupressen. – Da ist nun endlich, wo ich es schon nicht mehr erwartet hatte, ein Brief von Dir gekommen, – und ein so herrlicher Brief, daß ich mich nun sofort (gestern Abend las ich ihn) hinsetze u. Dir antworte, oder vielmehr Deiner Ediktalladung Folge leiste. – Vorher war ich lange zweifelhaft ob ich Dir meinen Wisch vom 18/11 noch senden solle; mehrmals || war ich sogar nahe dran daran, ihn zu zerreißen. Doch ich thue es nicht, ich schicke Dir auch ihn, – nicht weil einmal geschrieben ist, sondern weil Du Alles erfahren sollst u. mußt, was ich bisher gedacht u. nicht gedacht habe. – Doch was schwatze ich jetzt von mir, da mein Herz doch ganz bei Dir u. in Dir ist. Mein lieber Ernst, wie glücklich bin ich, da ich sehe, daß von Dir wenigstens alle traurige Stimmung gewichen ist; ich möchte Dich beneiden, aber nein, pfui, das klingt als sei ich jetzt in irgend einer schlechten Gesinnung fähig, so schlecht ich mir bisweilen vorkommeb. Nun dazu mein herzlicher Glückwunsch, u. der liebe Gott erhaltec Dich bei solcher Gesundheit. Was Dein Brief sonst auf mich für Eindruck gemacht hat, kann ich Dir im Einzelnen nicht schreiben; er ist auch noch zu frisch, als daß ich zu hoffen wagen dürfte, er werde anhalten. Das aber kann ich Dir versichern, daß auch ich nun einmal anfangen werde, selbstständig zu handeln, zu denken. Der erste Entschluß, den ich jetzt ebenso fest als schnell gefasst habe, ist, zu Ostern Halle zu verlassen. Zu Dir will ich fliegen, lieber alter Freund, zu Dir, der Du doch der einzige wahre Freund bist, den ich habe, den ich leider lange Zeit habe zweifeln lassen, ob ich denn noch der alte sei. Der Vorwurf ist nur zu richtig: ich war’s nicht mehr, doch ich träumte nur, nein ich schlief; nun aber hast Du mich wieder ins Leben gerufen . u. ich denke, wir sollen ferner lebendige Freunde bleiben. – – – – – – – – – – – || Eine Reihe Gedankenstriche; sie sollen Dir andeuten, daß hier in meine Ideen eine sonderbare – wie soll ich’s nennen – Ahnung, Gefühl, Befürchtung eingreift, so daß ich wieder andrerseits Bedenken trage, Dich selbst zu Ostern aufzusuchen. Soviel ich selbst an Dir haben, von dir lernen könnte, so wenig wirst Du wiederum von mir armen Schlucker profitiren. Darf ich es daher wagen, allzu große Hoffnungen auf Berlin zu setzen? Dazu kommt, daß ich fast einige Unruhe hege für diesen meinen Plan, welche ich aus Deinen Worten ziehe. Doch ich kann nicht glauben, daß Du Berlin zu verlassen gedenkst. Wäre dies der Fall; nun so wüßte ich halt nicht, wo ich mit meiner Unruhe hin sollte. In Halle bleiben? Nimmermehr! Ich sehe daß ich durch Halle fast 2 Semester verloren hätte. Wie das, davon später. Aber wo dann hin? Ich glaube, ich könnte nach Süden fliehen u. mich irgendwo, in ganz unbekannter Stadt, unter völlig Fremden aufhalten, dort ein Ideal aufsuchen, was ich bisher noch nicht gefunden. Denn dies ist es, was mich von Halle vertreibt, was mir dringend Noth thut, wenn ich nicht zu Grunde gehen soll, was ich aber noch nie geschaut [!] habe. Denn wer könnte hier die Studenten begeistern, mit Leib u. Seele den Naturwissenschaften gewinnen? Gehen wir die Reihe der der Natur Wissenschaft verbundenen Lehrer durch! Heintz (der Chemiker)d mit seinem wirren Vortrag? Girard mit seiner gemüthlichen Bequemlichkeit, die in sich nie präpariren läßt? Schlechtendal mit seiner abschreckenden Langweiligkeit? Knoblauch (Physiker) mag eher gehen, er kann mir oft sehr gefallen; denn er ist sehr klar, was schon Ursache geben kann, über manche || Fehler wegzusehen. Der Einzige wäre Burmeister, den ich oft für Dich nach Berlin wünsche. Wenn Einer mich für Zoologie gewinnen könnte, so wäre gewiß er das, obgleich er mir der Hauptsache nach (wenn man davon bei solchen Leuten reden kann, denn sie umfassen natürlich ihr Gebiet nach allen Seiten) Systematiker e zu sein scheint, denn Alles, was er giebt, legt er auf dieses Ziel an. Daher mag es wohl auch kommen, daß er so durchaus kalten Verstandes, ohne tieferes Gemüth bleibt; doch jene Klarheit u. Durchsichtigkeit erhebt ihn gewiß zu einem der größten, wenn nicht zu dem größten Zoologen der Gegenwart. Du wirst mich fragen, wie es komme, daß ich für den Lehrer, aber nicht für seine Wissenschaft so inflammirt sein kann. Das ist eben das Traurige, daß ich so gar wenig von jenem gehabt habe, u. weswegen ich (in wissenschaftlicher Beziehung) so viel Zeit verloren zu haben mir gestehen muß. Voriges Semester, das schöne erste Fuchssemester verging mir wegen Überfülle von Collegien so gut wie nutzlos – und da hörte ich Burmeister! Dies Semester darf ich höchstens dann u. wann bei ihm hospitiren; denn ihn zu hören hält mich das Laboratorium ab, was für mich nun doch wichtiger ist. Und um wahr zu sein, es ist nicht die Zoologie, zu der es mich hintreibt; ein anderes Ideal muß ich suchen; doch welches? Du weißt nicht, wie schrecklich es ist, herumzutappen ohne sicheres festes Ziel, – ja mit verlorenem Lieblingsfach! Ich kann Dich daher auch nicht zweifelhaft lassen, ob ich wohl meiner alten Lieblingsbeschäftigung, der organischen Natur, mich wieder mit Leib u. Seele zuwenden werde. ||
Sollte Dir aus meinen Worten dieser Gedanke gekommen sein, so thut es mir leid ihn niederschlagen zu müssen. Ihr Freund werde ich bleiben, aber nie mehr ein Bewerber um das organische Studium. War Flora sonst meine Braut; – jetzt ist sie eine entschwundene schöne Gestalt, an die ich nur noch, doch dies immer, gern u. freudig denken werde, nicht vergessen. – Du wirst einsehen, daß, wenn ich mich wirklich zur Umkehr entschlossen hätte (woran ich manchmal gedacht), dies ein verfehlter Schritt sein möchte, der sich bald von selbst bestrafen würde, eine Übereilung, die ich nach meiner bisherigen Entwicklung nicht wieder gut machen könnte. Nein, also jetzt nun vorwärts auf dem einmalf betretenem Wege, das Andere wird sich später finden. – Das Gute, nicht zu Bezahlende Deines Briefes, daßg er auf mich fernerh wirken soll wie es schon begonnen, ist, daß i Du mir die Sehnsucht nach einem höheren Ideal, das ich offen gestanden bisherj nicht kannte, geweckt hast u. daß ich fest entschlossen bin, dies zu finden u. dann ihm nachzustreben. Dazu habe ich mir nun Berlin ausersehen; gewiß wirst Du mir dabei behülflich sein.
Und nun nochmals herzlichen Dank für Deinen (wenn auch nicht an mich gerichteten) Brief, dem allein ich diese innere Umwandlung zu verdanken habe. –. – Doch da fällt mir eben ein, daß Du Dich möglicher Weise ob dieses Eindrucks oder ob der Ehre, ihn auf mich gemacht haben zu sollen notwendigerweise überwiesen zu sein, höchlichst verwundern könntest. Vielleicht hast Du längst gewußt, geahnt, ge- was weiß ich, daß || ich nach Berlin (zu Ostern nämlich) kommen werde. So muß ich Dir denn das Vergnügen machen, Dir zu versichern, daß ich wirklich davon nichts Bestimmtes gewuß habe; und wenn mir mein Onkel zu Weihnachten die Freude machen sollte (was nicht unwahrscheinlich), mich dahin einzuladen, so freue ich mich, ihm mit diesem Entschlusse zuvorgekommen zu sein; denn k ich habe lange genug daran gelitten, nicht mein eigner Herr gewesen zu sein. Diesmal hoffe ich es durchzusetzen. Denn ich würde dies abermals nicht gewesen sein, wenn ich mich durch irgend Wen dazu hätte bestimmen lassen. Du glaubst nicht, wie sehr ich an Nichts anderm als diesem seit Ostern laborirt habe.
Doch genug jetzt von mir; nochmals zu Dir lieber herziger Freund! Wirst Du mich denn wieder in Gnaden aufnehmen u. mir auch noch ein Plätzchen in Deinen Gedanken reserviren? Du bist ja jetzt so leichtsinnig geworden, oder vielleicht besser so vielsinnig daß ich fast fürchten könnte, Du habest gar keinen Raum und Zeit mehr für einen armen, traurigen, phlegmatischen, tristen, .… u. s. w. Burschen wie mich. Gesellschaften über Gesellschaften beherrschen Dich bescheidenen wohlerzognen Jüngling, Dich schüchternes Exemplar der Menschheit, Menschen über Menschen drängen sichl in Deinen Kopf, Dein Herz; Du wirst der Ausbund aller Liebenswürdigkeit u. obendrein der erste Renommistm. – – – Was soll man dazu sagen!!! Ich erkenne Dich nicht mehr; „Bist Du’s denn noch, oder bist Du’s nicht mehr?“ Und schon deshalb muß ich eilen, Dich wiederzusehen, Dir Auge in Auge zu schauen; sonst entschwindest Du mir noch ganz. || Da muß ich Dich noch einmal an mich erinnern, Dir noch ein Bild von meinem Sein in Halle vorführen, das Du Dir zu Herzen nehmen magst, auf daß Du von Deinem haarsträubenden Leichtsinn lassest. Sieh, da sitze ich in meinem Stübchen, auf dem Sopha neben dem Ofen, vor mir aufgeschlagen liegt auf dem Tisch „Eisenlohr’s Physik“ oder „Berghaus physikalischer Atlas“ oder dergleichen Schönes. Nichts kannn mich stören: denn die 2 Fenster die mir gegenüber sind, sehen „auf des Nachbars Feuermauer“, oder wenigstens auf ein niedriges Dach. Die Stille deutet auch schon die Dekoration der Stube an. Über mir hängt Heidelberg, glücklicher Weise ohne Studenten darauf sehen zu lassen; an der Wand mir gegenüber eine Jagdszene, die aber sehr ruhig ist, man sieht nur einen Hund im Korn; daneben einige Porträts, worunter Dein berühmter College Jenner bekannt als Pocken-Jenner; endlich an der Wando zwischen Fenster u. Sopha unter anderm ein Ölbild, das sehr an Schkopau erinnert, u. das ich auf der Gemäldeausstellung gewonnen, übrigens ganz nett. Ist das nicht das reine Stillleben? – Das nimm Dir zu Herzen und eifre ihm – ja nicht nach.
Doch genug. Du sollst diese Zeilen noch vor Weihnachten erhalten; da ich nach Weihnachten viel werde zu schreiben haben u. Dir nur wenige Zeilen zukommen lassen könnte.p Aber schreib’ nun auch Du bald einmal an mich; denn seit länger als einem halben Jahre habe ich darauf vergebens gehofft. – Du siehst, daß ich Deine Zettel an mich unverschämter Weise ebenfalls nicht als Briefe gelten lasse. ||
Ein recht glückliches Weihnachtsfest wünsche ich Dir natürlich u. eins, das Dir möglichst viel bringen möge. Gern hätte ich Dir ein Zeichen meiner freundschaftlichen Rückkehr zu Dir geschickt, aber – bald komme ich ja selbst. Denn es ist mir, als ob q Ostern schon ganz nahe wäre. Ich wünschte wirklich schon das Fest vorüber, Ostern erst da; dann flieg ich zu Dir u. überantworte mich Dir ganz, leiblich u. geistig (d. h. Du wirst hoffentlich nicht ein so enthusiasmirter Mediciner sein, daß Du meinen Cadaver zu seciren wünschen könntest).
Berlin hat gewiß seine Schattenseiten, eine arge ist die liebenswürdige Polizei-Despotie u. die Politica überhaupt. Nun was scheren uns die.
Weber wird Dir gewiß von Halle so viel erzählt haben, daß ich nur Wiederholungen bringen könnte. Deshalb ist es nun wohl erlaubt zu schließen. Wie gesagt, bitte bald um einen Brief.
Dein treuer Freund
Ernst Weiß.
NB. Herzlichen Dank für Deine Sendung, bin ich erst in Berlin, so will ich mich revangiren [!], wenn ich kann; das Herbarium liegt bei mir sehr im Argen u. wartet sehnlichst des Ordners.
a korr. aus: in; b korr. aus: vorkommen; c gestr.: mache; eingef.: erhalte; d eingef.: (der Chemiker); e gestr.: ist; f eingef.: einmal; g irrtüml: das; h eingef.: ferner; i gestr.: ich fest entschlossen bin; j eingef.: bisher; k gestr.: was hilft’s; l korr. aus: Dich; m mit Einfügungszeichen eingef.: u. obendrein der erste Renommist.; n gestr.: darf; eingef.: kann; o gestr.: neben; p gestr.: , was das; q gestr.: ich