Ernst Haeckel an Charlotte und Carl Gottlob Haeckel, Würzburg, 25./26. April 1853

Würzburg 25/4 1853.

Liebste Eltern!

Ich benutze den Abend von Großvaters Geburtstag, wo ihr wohl recht traulich und freudig bei unserm großen Familienhaupt beisammensitzt und vielleicht auch zuweilen meiner gedenkt, um euch meine glückliche Ankunft hierselbst zu melden, und etwas von meiner Herreise zu erzählen. Die Nacht bis Halle legte ich prächtig schlafend und bis Köthen ganz allein in einem Coupé für „Nichtraucher“ zurück. In Halle kam ich nach 3 Uhr an und stöberte dann Weber, Hetzer und Weiß, welcher Tags zuvor von Merseburg herübergegangen war, aus dem Bette. Mit letzterm machte ich während des Vormittags eine größere Excursion nach Giebichenstein, Kröllwitz u. s. w. Alles war aber noch außerordentlich zurück, so daß wir selbst von der Anfang März zu allererst blühen sollenden Gagea saxatilis am Ochsenberge fast noch gar keine blühenden Exemplare fanden. Dafür beglückten uns ein paar niedliche Moose; Guembelia ovata und Polytrichum piliferum; letzteres sehr schön roth gefärbt und mit reichlichen männlichen Blüthen, was ich noch nie gesehen. Übrigens gingen wir immer im furchtbarsten Sturm und Regen. Mittags aß ich in einer Studentenkneipe, wo ich mehrere Merseburger Freunde traf. Nachmittags besuchte ich Finsterbusch. Er sah sehr munter aus, aber sein eines Bein ist krumm und bedeutend kürzer, als das andere. Dann ging ich zu Schlechtendal, der mich grade nicht sehr erbaute, namentlich als ich das Gespräch auf mein Berufskapitel brachte. Er rieth mir, die Botanik lieber ganz aufzugeben (wozu ich wohl auch den Willen, aber nicht die Kraft hätte); später erfuhr ich aber von Henkel, daß er überhaupt sehr egoistisch in Bezug auf jüngere Leute ist, sie nicht unterstützt und von der Botanik ganz abzubringen sucht. Es war mir ziemlich einerlei.

Donnerstag den 21sten Abends fuhr ich mit Weiß und Weber nach Merseburg und zwar in einem Coupee 2ter Klasse auf Billets für die dritte, da diese ganz voll war. Dies machte ihnen viel Spaß. Osterwaldts empfingen mich sehr freundlich; er läßt sich vielmals entschuldigen, daß er noch nicht geschrieben und gedankt habe. Er hätte soviel zu thun. Mein Pathchen war krank und sah sehr blaß aus. Dagegen war „Minchen“ sehr gewachsen und sah viel besser und gesünder aus. Über die Geschenke freuten sie sich sehr. Freitag früh experimentirten Weiß und ich mit Bertheau’s neuem Mikroskop, das ganz vortrefflich ist und mir die Sehnsucht nach meinem neuen wieder recht erweckt hat. Nachmittag ging ich zu Karos, denen es leidlich wohl geht. Sie empfingen mich, wie auch die andern Freunde, sehr liebevoll und freundlich. Kathens habe ich nicht gesprochen; er war verreist, und sie unwohl. Dann ging ich zum alten Wieck, den ich sehr schwach und alt geworden fand. Er las grade den Koran. Als ich zufällig erzählte, wie Du Gervinus Einleitung pp studirt, fing er heftig an zu eifern gegen einen solchen Republicanismus und radicalen Demokratismus! – ||

Dann ging ich zu Lüben, der mich sehr freundlich empfing, und bei dem ich über 4 Stunden verweilte, wobei wira gegenseitig einmal recht gründlich unser naturhistorisches und insbesondere botanisches Herz ausschütteten. Hatten wir doch die Erlebnisse eines ganzen Jahres auszutauschen! Er meinte, wie auch alle andern Freunde, die ich sprach (namentlich Weiß, der ganz bestimmt daran glaubt, Osterwald u.s.w.), daß ich eigentlich zu nichts anderm, aber auch zu nichts mehr tauge, als zum Professor Botanices! – O! O! O! – O scientia amabilis; Quando tandem tecum in aeternum conjungas?!!! –

Das setzte mir dann wieder so tolle Gedanken in den Kopf, daß ich bis hieher sehr vergnügt und munter war! – Der junge Lüben (der bereits in Jena studirte, ist übrigens wieder in Merseburg auf der Schule und wird erst zu Michaelis das Examen machen. Das ist auch traurig. – Den Abend machten Osterwaldts mir zu Ehren einen trefflichen Stahlpunsch (alias Konsistorialpunsch) ein ganz herrliches Getränk, das ich euch nur zur Nachahmung empfehlen kann, und das bereitet wird auf folgende einfache Weise: Man erwärmt den Wein (Rothwein) mit der gleichen Quantität Wasser, und hält, wenn diese Mischung etwa 40° R warm ist, einen rothglühenden Stahl etwa ½ □ Fuß b groß und 1 Zoll dick (z. B. 1 Pletteisen) hinein, während man gleichzeitig den in Rum gelösten Zucker hinzugießt. Das Gebräu wallt dann ein paar Minuten heftig auf und der herrlichste aromatische Punsch ist fertig. Wir waren dabei sehr vergnügt.

Am folgenden Morgen ging ich zu Christel und ihrem Mann. Sie schienen sehr glücklich und munter zu leben; ihre kleine Emma ist ein dickbackiges munteres Kind.

Dann war ich bei Friedrich, der jetzt gleichfalls glückseliger zärtlicher Familienvater ist. Sein kleiner Junge, ein derbes, leidlich hübsches Bürschchen, heißt mir zu Ehren Ernst!! (Also schon das zweite Pathchen! zu viel Ehre für einen solchen Taugenichts, wie ich doch einmal einer zu werden scheine!). Aus dieser Hütte der Armuth gings direct zum Palast des Reichthums und des Glücks, zu dem von mir um seine botanischen Schätze und Muße recht beneideten, immer noch sehr muntern alten Grafen Henkel, der mich fast so zärtlich, wie seinen Sohn empfing. Er arrangirte mir zu Ehren ein delicates Frühstück im höheren Stiel: Fischpastetchen, die ich mir trefflich schmecken ließ und eine Flasche „echten alten Xeressekt“. Besagter alter Wein und eine andere c Bouteille noch älteren und schwerern (dessen Namen ich vergessen) machten uns äußerst aufgeräumt und liebenswürdig. Nach ein paar Stunden hatten auchd wir unser botanisches Herz für das ganze Jahr ausgeschüttet. Dann gings noch zu Thielemanns, die recht munter waren, und zu || Basedows. John ist trotz seiner großen Reise (auf der er nur 3 Tage am Lande gewesen ist, und von der er nichts weniger als erbaut ist, vielmehr sehr ungern davon erzählt) noch immer der alte kleine Knirps. Er wird Forstmann, ist aber sehr zurückgekommen und muß wenigstens noch 4 Jahr auf der Schule bleiben. Auch die beiden Töchter sind weder liebenswürdiger, noch hübscher geworden. Übrigens wird von den Verlobten Hanny allgemein noch mehr bedauert, als Elsner. Des Mittags war ich bei Merkels. Sie sind immer noch dieselben herzlichen Leute und wissen nicht genug zu erzählen, wieviel sie an euch verloren haben. In den alten vertrauten Räumen lebten so recht die alten Erinnerungen wieder auf und mein ganzes dortiges Jugendleben ging in lebhaften Bildern, die mich oft traurig genug stimmten, wenn ich dachte, wie schlecht ich diese schöne Zeit benutzt habe, an meiner Seele vorüber. Ich durchstrich das Haus und namentlich die Gärten, wo mir jeder Fleck so lieb geworden war, wo sich an jede Erdscholle, an jeden Baum und Stein eine besondere Erinnerung knüpfte, mit dem Gefühle der innigsten und tiefsten Wehmuth, und der Abschied wurde mir sehr schwer. Ich ging noch einmal zu Karos, wo ich Lottchen Dewitz und Brettner sprach, welcher mir entschieden das Studium der Medicin wiederrieth, falls ich nicht besondere Neigung dazu hätte. Nun ists einmal geschehen. Endlich war ich noch bei Simons, die mich, wie auch alle andern Freunde, sehr herzlich aufnahmen und euch viel 1000mal grüßen lassen. e Den Rest des Tages war ich noch bei Osterwaldts, wo noch einmal mir zu Ehren Stahlpunsch gebraut wurde, und zwar halb weißer, halb rother Wein (nach Weißens Angabe) was auch sehr gut mundete. Gegen 8 Uhr fuhr ich nach Halle herüber, wo mich Hetzer, Weber und Finsterbusch empfingen. Wir gingen gleich zusammen in die Halloria, die einzige Kneipe, wo unser Lieblingsgetränk, das angenehm säuerliche Lichtenhainer Bier (das einzige, was ich trinke) dessen Heimath Jena ist, gebraut wird, und wo wir uns es rechtf wohl sein ließen. Sehr munter und aufgeräumt gingen wir dann noch auf Webers Stube, wo wir uns noch lange recht herzlich und freundschaftlich unterhielten. Um 3 Uhr fuhr ich wieder ab nach Leipzig, von 6 Uhr von dort nach Hof (wobei wir wieder über die 2 gigantischen berühmten Viaducte kamen) und um 1 Uhr von hier nach Bamberg, g wo wir Abends um 7 ankamen. Die ganze Tour geht meist durch herrliche oft höchst anmuthige Berggegenden namentlich kurz vor und hinter Hof. Die Steigung der Bahn daselbst ist sehr bedeutend und ebenso nachher der Abfall. Hier geht ein paar Stationen vor Kulmbach die Bahn ziemlich steil bergab und zwar höchst malerisch in der Mitte einer halbkreisförmigen hohen Gebirgswand, wo der Schienenweg einige 30 Fuß hoch aufgemauert und in den Felsen eingearbeitet werden mußte. || Auf der andern Seite gießt ein wilder Bergbach herab. Eine große Strecke lief hier der Zug von selbst, ohne Thätigkeit der Locomotive bergab, so daß sogar gehemmt werden mußte. Während das Wetter früh sehr regnerisch und stürmisch war, klärte es sich Nachmittag auf, so daß wir die Lichtenfelser und Bamberger Gegend in der schönsten Beleuchtung sahen. Auch war die Vegetation hier schon sehr weit vorgerückt, während um Hof noch tiefer Schnee gelegen hatte. Die Saaten waren schon herrlich grün und üppig; und überall blühten zwischen ihr niedliche kleine Gelbsterne. Den Abendh sah ich mir wieder (wie am 26sten October vorigen Jahres) die schöne alte Stadt Bamberg mit ihren alten Häusern, Brücken und Kirchen an. Um 10 Uhr fuhr ich mit der Post ab, und war am andern Morgen früh um 7½ Uhr (Montag den 25sten, heute) wieder in dem alten Würzburg, wo mich meine Wirthin überaus herzlich empfing. Um 8 Uhr saß ich bereits im Kolleg, bei Schenk, in der medicinischen Botanik, die für mich eigentlich (ausgenommen die schönen Pflanzen, die man bekömmt) herzlich wenig Nutzen hat. Indeß höre ich sie aus „Anstand“ und mehr aus Rücksicht für ihn als für mich, da er es mir halb und halb angeboten hatte. Ich bleibe so wenigstens in gutem Verkehr mit ihm. Mit den botanischen Kollegien habe ich aber wirklich noch am allerwenigsten Glück, da ich eigentlich noch keins gehört habe, was mich ganz befriedigt hätte. Schenk ist übrigens der erste, der heute schon zu lesen anfängt; die andern beginnen alle erst nächsten Montag, den 2ten Mai und zwar zu meinem nicht geringen Verdruß, da mir es hier nicht eher wieder behagen wird, als bis ich ordentlich im Zuge bin. –

Dienstag den 26sten Abends.

Gestern Abend schlief ich ein, als ich mich ein wenig hinlegte, um über das, was ich euch noch schreiben könnte, nachzudenken, und gewißermaßen ist es mir lieb, daß der Brief erst jetzt fortkommt, da ich euch nun wenigstens schreiben kann, daß die bösen trüben Gedanken, die mich gestern und heute früh wieder mit Centnerlast darniederdrückten, besonders als ich heute früh die i neue Anatomie (die heute bezogen und eröffnet wurde) besuchte, einem etwas hellern und hoffnungsvollern Sinn gewichen sind, besonders da ich Nachmittag bei meinen Freunden, Schenk, dem Dr. Gsell-Fels, und Lavalette die herzlichste Aufnahme fand. Es wurde mir meine ganze Existenz gestern wieder einmal plötzlich so ungeheuer schwer und alle Aussicht in die Zukunft schien mir so gänzlich getrübt und vernichtet zu sein, daß ich heiße Thränen hätte weinen mögen und nichts konnte, als still zu Gott seufzen und ihn um seinen gnädigen Beistand bitten. Vergebens versuchte ich die trostlose und verzweiflungsvolle Stimmung durch angestrengtes Studium der schwierigen Cerebralnerven zu verscheuchen; nur meine Augen waren es, die in dem anatomischen Buche lasen. Mein Herz war ganz bei meinen Lieben schweifte bald hier, bald dort in meinem düstern und verfehlten Leben herum. Die ganze Zukunft stieg immer wie ein finstres kaltes Todesverhängniß vor meinen trüben Blicken herauf, und ganzj vergebens rief ich mir die guten Vorsätze ins Gedächtniß zurück, welche ich in Berlin, fern von k all dem gräulichen medicinischen Treiben gefaßt hatte, und die bei seinem Anblick, wie immer, im Nichts zerfließen mußten.l Ich glaube übrigens diese unglückselige Stimmung, die mich wirklich zu allem unfähig macht, großentheils auf m meine gänzliche Isolirtheit hier schieben zu müßen, die zu sehr mit dem vorherigen liebevollen Freundesleben contrastirt.n Wenn ich erst mit dem Arbeiten wieder ordentlich im Zuge bin, denke ich, soll es viel besser gehn; wie es ihm aber auch gehen mag, immer umfaßt euch mit der herzlichsten alten Liebe euer treuer Sohn Ernst Haeckel.o ||

Gestern Abend habe ich ganz besonders viel an euch gedacht: das ist wohl noch einmal ein recht schönes Zusammensein der ganzen Familie gewesen, bei dem lieben, herrlichen Großvater. Wie glücklich wird er gewesen sein mit seiner lieben genesenden Bertha, seinem Goldtöchterchen Hermine, der lieben Tantep Auguste und all den andern zahlreichen Kindern und Enkeln. Es thut mir auch recht bitter leid, daß ich dies schöne große Familienfest nicht mitfeiern konnte. Aber über das, was nicht sein kann, soll man nicht klagen (Und doch hätte es am Ende sein können!) Nun grüßt alle aufs beste, besonders Tante Bertha, Mimi, Theodor, Tante Auguste u.s.w. auch meine Freunde, wen ihr seht. Großvater bringt noch insbesondere meine besten und innigsten Grüße und Glückwünsche für sein Geburtstagsfest. Gott erhalte uns den prächtigen alten Mann noch recht lange frisch und munter zu aller Freude und Erbauung. Und wenn ihr so recht traulich im lieben Verwandtenkreise zusammen sitzt, so vergeßt auch nicht euren fernen einsamen, in Liebe eurer gedenkenden Jungen E. H.

So eben sehe ich, daß ich aus Versehen Mamas Papierscheere mitgenommen habe; bei Gelegenheit schicke ich sie wieder.q

Meine Wirthin läßt sich aufs beste für das schöne Kleid bedanken; sie war ganz selig.r ||

a eingef.: wir; b gestr.: d; c gestr.: andere; d eingef.: auch; e gestr.: Daß; f korr. aus: rechts; g gestr.: d.; h korr. aus: Abends; i gestr.: Ana; j Text weiter am linken Rand von S. 4: Mein Herz … war ganz; k gestr.: dem; l Text weiter am linken Rand von S. 3: vergebens rief …zerfließen mußten.; m gestr.: die; n Text weiter am linken Rand von S. 2: Ich glaube … contrastirt; o Text weiter am linken Rand von S. 1: Wenn ich … Haeckel.; p Textverlust durch Ausriss, Wort sinngemäß ergänzt; q Text weiter am rechten Rand: So eben … wieder;; r Text weiter am linken Rand: Meine Wirthin … selig.

Brief Metadaten

ID
37464
Gattung
Brief mit Umschlag
Entstehungsort
Entstehungsland aktuell
Deutschland
Entstehungsland zeitgenössisch
Königreich Bayern
Zielort
Zielland
Deutschland
Datierung
26.04.1853
Sprache
Deutsch
Umfang Seiten
5
Umfang Blätter
3
Format
21,1 x 27,4 cm; ca. 23,0 x 25,5 cm
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 37464
Zitiervorlage
Haeckel, Ernst an Haeckel, Carl Gottlob; Haeckel, Charlotte; Würzburg; 26.04.1853; https://haeckel-briefwechsel-projekt.uni-jena.de/de/document/b_37464