Carl Gegenbaur an Ernst Haeckel, Heidelberg, 18. Januar 1874

Heidelberg, 18 Jan 74.

Liebster Freund!

Unter dem Eindrucke der heute mir zugekommenen erschütternden Nachricht von M. Schultze’s Tod schreibe ich diese Zeilen, und kann nicht anders als tief das traurige Schicksal beklagen welches eine glückliche Familie, wie es scheint so unvermuthet, getroffen hat. Wie auch immer unsere Lebenswege wie die Bahnen unseres Strebens mit der wachsenden Zahl der Jahre bedeutender divergirten, so ward dadurch die Achtung vor den hohen wissenschaftlichen Leistungen, die eine frühere Zeit erzeugt hatte, nicht gemindert, und ebensowenig die Hochschätzung jener Seiten die wir an dem Verblichenem als den besten Theil erkannten. Es sind vergangenen Herbst 20 Jahre gewesen da ich ihn zum erstenmale traf, begeistert für vergleichende Anatomie, die er damals für das höchste hielt. Ich geleitete ihn zu Heinr. Müller, und lauschte mit Andacht seinen Darstellungen die sich in längerem Gespräche über anatomische Auffassungen und Behandlung || der Anatomie entwickelten. S. war damals auf dem Wege nach Neapel, eine Reise die in der Verlobung mit der ersten Frau wie in den Polythalamien so herrliche Früchte trug. Später besuchte ich ihn in Halle wo er mir noch spät des Nachts in vollem Vaterglück seinen ersten Sprößling aus der Wiege holte, und auch aus den folgenden Jahren taucht mir manche liebe Erinnerung gemeinsam durchlebter froher Stunden freundschaftlichen Verkehrs empor. – –

Angesichts des Epigonenthums ist S. Tod auch ein wissenschaftlicher Verlust, den ich beklage, wie sehr er auch von uns sich entfernt hatte, was jetzt vergessen sein soll. Nun komme ich erst zu Deinem lieben Briefe mit den beiden Photogrammen der Frau Häckel, wofür sowohl von meiner als meiner Frau Seite hiemit herzlichster Dank ausgesprochen sei. Meine Frau wird denselben noch selbst äußern sobald sie wieder etwas wohler sein wird als die letzten Tage her.

Deiner Aufforderung für die Jenaische L. Z. zu schreiben trage ich Bedenken zu entsprechen, und will mich Dir offen aussprechen. Die Erwägung der mir zu Theil gewordenen unerhörten Behandlung von Seite der Spitze der Universität läßt || es mir räthlich erscheinen mich von einem Unternehmen der Universität fern zu halten, ich käme mir dann vor wie einer der da wieder anklopfen will, wo er hinausgeworfen wurde. Ich habe während der langen Jahre meiner Jenenser Existenz viele, viele kostbare Zeit jener Universität zum Opfer gebracht, blos der Universität, nicht meinen Interessen. Ich bin recht sehr stolz darauf, und will nicht einmal sagen daß ich ein großer Thor war, aber ich fühle noch die erfahrene tiefe Kränkung, die durch das Benehmen gegen Fürbringer, gleichfalls in seiner Art unerhört, noch fortdauert. Ich weiß daß ich Alles das von Jena nicht verdient habe und eben darum kann ich meinen Namen mit dem Jenas nicht verbunden sehen, wenn ich auch die Collegen, von denen so viele mir nur Freundliches erwiesen, wohl von dem Curator zu unterscheiden weiß.

Ueberlege Dir Alles das, oder setze Dich einfach an meine Stelle, und Du wirst mir recht geben, zumal Du doch meine Gesinnungen gegen Jena am besten kennst. Wie man mich behandelt hat ist zudem auch auswärts bekannt. Mit tiefstem Mißtrauen erfüllt befürchte ich daß Fürbringer noch ferner malträtirt wird, und ich halte es nicht für unwahrscheinlich daß man ihn in irgend einem Fache wird durchfallen lassen, der Wohldiener gibt es ja auch in Jena genug. Ob es dann vielleicht nicht || indizirt ist das Ganze als einen Beitrag zur Universitätspraxis zu veröffentlichen will ich dahin gestellt sein lassen, bis der Jagdzug auf Fürbringer vorüber ist, der Curator weiß übrigens daß F. herzleidend ist, und hat mich selbst letzten Sommer noch spontan danach gefragt!

Für Dein Anerbieten Rusconis danke ich bestens, ich besitze das Buch seit 15 Jahren, und Du hast es gewiß bei mir gesehen. Auch habe ich mit Dir davon gesprochen, da einmal der Fritsch in Berlin eine in den Grundzügen (1 Aufl) copirte Figur als eine Rusconi von mir unterschobene erklärt hatte, da ihm das Buch unbekannt war! Um so lieber acceptire ich Echiderm, und werde Dir das Skelet abliefern auch die Nebennieren und Alles was etwa im Pelze sitzt.

Hasse der fleißig mit mir correspondirt, ist jetzt eine wahrhafte Perle in der Anatomie. Es ist jammerschade daß er so elend von Jena kam wo er sich gewiß ausgezeichnet entwickelt hätte. In der Osteologie steckt er leider noch ganz in der Owen’schen Befangenheit des Schematisirens und macht mir viele Mühe mit Aufklärungsversuchen. Immerhin steht er weit über den Hismodellen, deren wissenschaftl. Glaubensbekenntnis mich sehr amüsirt hat. Wenn doch nur einmal einer wirklich etwas mechanisch erklärt hätte! Diese Richtung geht aber nur ins Blaue, und sagt immer nur was sie will und wie man’s soll, aber sie macht nicht’s wenn man nicht das His’sche Briefcouvert oder Kautschukrohr oder die Fickschen Gelenkschleifen für mehr gelten lassen ||

II

will, als sie wirklich sind, für eitlen Humbug. Allem nach wird S. nicht so lange in J. bleiben daß der Genius loci auf ihn wirken könnte, und überdieß denke ich mir daß derselbige Genius mit Dir bald verschwinden wird.

Hier ist der Genius loci ein unangenehmer Poltergeist, von dem man sich am besten fern hält. Ich kann Dir nicht sagen wie sehr ich darüber befriedigt bin mich nicht an der jüngsten Wahlschlacht betheiligt zu haben, zu der selbst sonst besonnene Männer sich einfanden. Ich fühle mich wie auf einer friedlichen Insel die von der Brandung umtost wird, und werde diese stille behagliche Wohnstätte gewiß nie verlassen. Mündlich manche heitere Geschichte die ich den Wogen abgelauscht. Nun zum Schlusse noch tausend Grüße von uns an Euch und damit Gott befohlen!

Stets Dein treuer

CG.

Rathke ist mir durch Fürbringer zugekommen entschuldige vielmals wenn ich ihn bei Dir vermuthet hatte.

Kannst Du vielleicht für Fürbr. bei den Examinatoren ein gutes Wort einlegen das nicht mißdeutet werden kann. Mich dauert der Aermste unendlich. Physiolog. u. Geburtshilfe halte ich fürs Bedenklichste obschon auch Anatomie zum Exempel statuiren nicht außer allem Zweifel ist. Wie gesagt, ich fürchte bei der Sachlage Alles. Wenn ich nur nichts davon gesagt hätte das F. mir folgen würde. Du siehst, ich war noch viel zu wenig Pessimist!

Brief Metadaten

ID
9974
Gattung
Brief ohne Umschlag
Entstehungsort
Entstehungsland aktuell
Deutschland
Entstehungsland zeitgenössisch
Großherzogtum Baden
Datierung
18.01.1874
Sprache
Deutsch
Umfang Seiten
5
Umfang Blätter
3
Format
13,6 x 22,0 cm
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 9974
Zitiervorlage
Gegenbaur, Carl an Haeckel, Ernst; Heidelberg; 18.01.1874; https://haeckel-briefwechsel-projekt.uni-jena.de/de/document/b_9974