Carl Gegenbaur an Ernst Haeckel, Heidelberg, 31. Dezember 1873 bis 3. Januar 1874

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Heidelberg 31. Dec. 1873

Liebster Freund!

Ich benütze die letzten mir zur Gebote stehenden Stunden des alten Jahres um Dir noch einmal einen Freundesgruß zu senden, zugleich mit dem Ausdrucke meiner besten Wünsche zum nahen neuen Jahre, für Dich wie für deine Familie. Wir haben in unserem Familienkreise ein fröhliches Weihnachtsfest verlebt, und erfreuen uns guten Wohlseins. Mir selbst kommen die Weihnachtsferien gut zu Statten, indem ich mich darin von der harten Semesterarbeit erhole, und dabei auch Zeit finde mich mit der Einrichtung meiner Anstalt etwas intensiver abzugeben als es mir bisher möglich war. Das Meiste bleibt freilich noch übrig und kann erst nach Vornahme des Umbaus begonnen werden. Einstweilen heisst es: sich behelfen, und abermals sich behelfen, wie ich das ja von Jena her gewohnt bin. Nur || das Eine ist zunächst wesentlich anders: daß ich bisher noch keinen Leichenmangel hatte, und aller jener Nöthen überhoben bin. Dabei fahre ich fort mich einzugewöhnen und die Vorzüge Heidelbergs zu empfinden. Die Wunden welche die Losreißung vom alten Jena erzeugte, beginnen zu heilen, und ich kann sagen daß ich kaum etwas anderes noch vermisse als Dich, freilich das Werthvollste meines Jenenser Besitzthums. Je längere Zeit sich zwischen uns drängt, desto mehr habe ich Sehnsucht nach Dir, und gäbe viel darum könnte ich manchmal Deine stürmischen Schritte erwarten. Doch auch in diesen Wünschen will ich bescheiden sein und mich begnügen wenn Du mir in treuer Freundschaft verbunden bleibst fürs Leben, wie auch Zeit und Raum uns trenne. Aber zu Ostern musst Du kommen das muß jetzt schon feststehen und mir als beruhigender Gedanke erscheinen der mir die Trennung mildern hilft.

Für Deine Zusendungen besten Dank. || Die Literaturzeitung soll ich Dir wohl wieder zurücksenden? Deine Einmengung meiner bescheidenen Person in die Kritik über Spengel hat mich nicht gefreut. Bitte nochmals dringend: lobe mich nicht, bist Du mit irgend etwas einverstanden so kannst Du es ja offen sagen, ebensogut als wenn Du wiederum meine Meinung nicht theilen kannst, aber lobe mich nicht! und gar noch in dem Maaße wie Du es dort gethan. Es macht mich wirklich schamroth. Dem Spengel hast Du übrigens wohl allzu scharf begegnet. Er ist Göttinger Student, der in G. eine Anthropolog. Gesellschaft gegründet hat, und eher der Aufmunterung bedarf. Schaden wird sein Schriftchen ohnehin kaum irgend anrichten.

Daß ihr an M. S. einen Mitarbeiter gewonnen habt, ist recht erfreulich, zumal sein aus dem Brief an Dich hervorgehender Standpunkt, wie vieles andere darin ihn als ganz besonders kritisch begabtes Individuum erkennen läßt. Die Anwendung der Gastraeatheorie auf die Pflanzen hat mich ganz besonders entzückt! Aber das andere ist kaum weniger köstlich, kurz ich habe mich königlich amüsirt, und kann || Dich nur bitten den Brief ja recht gut aufzubewahren. Dazu noch P. als physiolog. Referent und das Glück der Literaturzeitung ist gemacht. Doch ich will nicht darüber scherzen, und ich will sagen es ist beklagenswerth daß Ihr so einen Kerl wie P. habt mitsprechen lassen. Viel besser wäre die Sache nicht so pure als Universitätsunternehmen behandelt worden, damit nicht jedes beliebige Universitätsmitglied sich einmengen kann. Ich weiß nicht wo sonst der Vorzug zu finden sein soll.

Was die Gastraea angeht so bin ich über die Arbeit hoch erfreut und gratulire herzlich. Aber das Schimpfen hättest Du doch lassen müssen. Das ist nicht schön und führt hier zu gar nichts. a Reichart ist ein durchaus wirrer Kopf, aber so ganz verdienstlos ist er nicht daß er ein blindes Huhn vorstellte! Die Arbeit selbst habe ich gerne studirt und finde nichts wogegen ich thatsächliche Einwände erheben konnte. Für manches wäre ein Fragezeichen zu machen, aber ich unterlasse es, da jenes mir wenigstens plausibel scheint. Bezüglich der Cölomwand ||

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weiß ich nichts sicheres, wie ich die Sache mir auch zurecht lege. Es bleibt eben überall noch sehr viel Arbeit zu thun und bis dahin ist Dein Gastraeaversuch als ein bahnbrechender Gedanke für jeden Fall berechtigt.

3. Jan. So bin ich denn mit meinem Brief noch ins neue Jahr gekommen, viel weiter hinein als mir lieb ist. Ich ward nämlich im Fortsetzen und Abschließen gestört, verräumte dann das Begonnene, und finde es erst jetzt wieder zwischen anderen Papiren auf, um sogleich mit dem besten Danke für Deine lieben Zeilen fortzufahren. Du hast mir mit denselben eine rechte Freude gemacht und beklage deßhalb daß mein Brief jetzt so spät erst an Dich gelangt. Doch an der Gesinnung wird ja dadurch nichts geändert und mir wird noch möglich auch noch manches andere beizufügen. Davon zuerst daß gegenwärtig die ganze oder fast die ganze Universität sich in größter Aufregung befindet. Porturiunt montes, nascetur Prorectoralium! Das erstemal sehe ich diesem wie mir scheint nicht sehr würdigen Treiben zu, aus möglichster Ferne, denn ich habe gar keine Lust mich ins Parteigetriebe zu mischen, wenn ich auch weiß wie ich wählen würde. Aber ich unterlasse es und fahre fort im übrigen meine Schuldigkeit zu || thun, unbekümmert darum was die einen wie die anderen von mir denken werden. Das bleibt ja mir auch unbenommen, bezüglich der Einen wie der Anderen. Wir stehen also auf gleichem Fuße. Doch genug daß Du mich auch in diesem Puncte noch beim Alten findest!

Die Arbeit O. Hertwig’s habe ich vor 8 Tagen nach Jena gesendet. Die Untersuchung ist ganz gut aber die b Darstellung leidet an vielen Mängeln. Ich habe dem Autor darüber geschrieben, obgleich er mir vorher schon mitgetheilt hatte daß er eine Umarbeitung beabsichtige. Es wäre mir recht unlieb wenn eine nicht unwichtige Untersuchung durch die Behandlungsweise geschädigt würde. H. will die Untersuchung, wie ich ihm in Jena noch vorstellte, in die höheren Abtheilungen weiter führen, was ich für höchst wünschenswerth halte, denn es wird dann in eine von mehr als einem halben Hundert Autoren verwirrte Frage sicherlich Licht kommen. Ob die Ausführung dieses Unternehmens unter M. S. Leitung möglich sein wird, ist mir in hohem Grade zweifelhaft, es müßte denn H so viel Widerstandskraft besitzen, um allen Gegenströmungen der höheren Anatomie zu trotzen. Zu dem bei dieser Gelegenheit bevorstehenden Tausche gratulire ich Dir übrigens zuvor. Es ist doch merkwürdig || wie man neben absolutem wissenschaftl. c Kritikmangel auch gar keiner Menschenkenntniß bedarf um ein „großer Anatom“ zu sein. Da ich aber einmal bei der Familie bin will ich auch des Erzeugers gedenken, und werde mich sehr freuen wenn Du Dir recht bald die abgeschriebenen Seiten zeigen läßt. Vergiß doch ja nicht daran zu erinnern. Von hiesigen großen Männern kann ich Dir nur schreiben daß deren Zahl sich jüngst um Einen vermehrt hat. Bessels ist nämlich hier. Er ist ein guter, braver Mensch, der Dich grüßen läßt. In 14 Tagen geht er wieder nach A. wo er sein Reisewerk ausarbeitet. Deinen Specialcollegen sehe ich zwar nicht, höre aber d um so mehr von ihm. Er popularisirt gleichfalls die Wissenschaft, in seiner Weise. So hielt er jüngst in Mannheim einen öffentlichen Vortrag über die Rheinschnacken, e um deren Erforschung er sich große Verdienste erworben hat. Als Mittel dagegen empfahl er „Räucherkerzchen“ S’ ist wirklich wahr, und im hiesigen „Saalblatte“ stand‘s jüngst zu lesen. Der nützt doch der Menschheit, während Du sie nur zum Verderben führst. Was sagst Du zu Agassiz Tod? Es ist ein Verlust trotz alledem, und der junge hat gewiß nicht die Begabung des Vaters. Ich bin begierig || zu erfahren wie er sich etwa jetzt zur Descendenzlehre stellt, und ob er das Institut leiten wird, oder ob Alles am Ende unter den Hammer kommt. Dann kann sich ja Dohrn an die Spitze stellen, denn ich glaube kaum daß er in Neapel viel Freude haben wird trotz kaiserlichem Zuschuß. Doch das Alles wird das neue Jahr entwickeln. Begrüßen wir es ohne Undank gegen das alte, und in froher Hoffnung daß es uns nur Gutes bringen möge und Unheil ferne halte. Dich aber soll es mir in treuer Freundschaft hegen und mir bald entgegen führen, damit vieles den kürzeren Weg des Wortes finde was den Umweg der Schrift meiden will, damit wir aber noch gegenseitig erkennen können daß wir uns wirklich die Alten geblieben. Damit lebe wohl und empfange beste Grüße denen auch meine Frau sich anschließt, für Dich wie für Deine Frau, und herzliche Wünsche für Euch wie für das Kinderkleeblatt, dem Herr Walter munter präsidirt.

Mit brüderlichem Kuße Dein

treuer

CG.

Hast Du nicht etwa noch Rathke Entwickelung der Crocodile von mir. Bitte siehe nach. f

a Folgt unkenntlich gemachter Passus; b gestr.: Art der; c von oben eingefügt: wissenschaftl.; d gestr.: s; e gestr.: der; f „Hast Du … nach“ auf S. 6 am linken Rand hinzugefügt.

Brief Metadaten

ID
9972
Gattung
Brief ohne Umschlag
Entstehungsort
Entstehungsland aktuell
Deutschland
Entstehungsland zeitgenössisch
Großherzogtum Baden
Datierung
03.01.1874
Sprache
Deutsch
Umfang Seiten
8
Umfang Blätter
4
Format
13,5 x 21,0 cm
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 9972
Zitiervorlage
Gegenbaur, Carl an Haeckel, Ernst; Heidelberg; 03.01.1874; https://haeckel-briefwechsel-projekt.uni-jena.de/de/document/b_9972