Carl Gegenbaur an Ernst Haeckel, Burgsinn, 2. Oktober 1866

Burgsinn, 2 October | 1866.

Liebster Freund!

Gestern Abend erhielt ich Deinen lieben Brief als ich gerade von einem kurzen Besuche bei den Meinigen in Würzburg zurückgekehrt war, und heute will ich nicht säumen, Dir noch auf deutschem Boden meine herzlichsten Grüße zuzusenden. Ich rechne nämlich, daß dieser Brief Dich noch erreicht, und der frühest bestimmte Termin nicht gut in Ausführung kommen wird. Wie Du Dich sehnen magst nach schwerer Zeit voll geistiger Arbeit und gemüthlicher Aufregung wieder in gleichmäßige Lebensströmungen zu gelangen, das begreife ich, der wenigstens der Aufregungen theilhaftig ward, ohne freilich geleisteter Arbeit sich rühmen zu können, vollkommen. Mögest Du auch da Dein Ziel erreichen, wie Du in Deiner jüngsten Bestrebung glücklich warst. Die übersendeten Stammbäume, die eine großartige Geistesarbeit auf kleinstem Raum vorstellen, geben mir einen Vorgeschmack von dem Ganzen. In den nächsten Tagen werde ich sie durchstudiren, jedes Wort fordert da ja zum tieferen Studium auf. (Die Verwechslung von Mono- u. Dicondylia in Zeile 1. auf Tafel VII hast Du wohl selbst bereits corrigirt. Ich erwähne das nur für den Fall Abspannung und Reisedrang Dirs hätte entgehen lassen.) Du thust gewiß gut daran zunächst nur Erholung zu suchen. Verwende doch ja nicht allzu kurze Zeit darauf. Es bleibt Dir ja immer noch der lange Winter für reiche neue || Arbeit. – Sehr begierig bin ich wohin Dein Weg Dich führen wird. Messina denke ich mir immer noch als den günstigsten Ort, günstiger als Balearen und Algier. Mag da auch manches Neue sein, so arbeitet sich’s doch gewiß nur mit großen Hindernißen aller Art. Die Entfernung der Arbeitsstube vom Meere, als wahrscheinlich angenehm, dürfte nicht das geringste sein. Doch Du wirst’s schon einzurichten wissen. –

Bei meiner jüngsten Anwesenheit in W. trug mir meine Schwiegermutter nebst vielen Grüßen an Dich die Meldung ihrer aufrichtigen Theilnahme am Geschicke Deines Bruders auf. Ich habe auch da bei dieser Gelegenheit die Vorzüglichkeit dieser Frau gesehen, aber auch neue Beweise für die Differenzirung. – Bei meiner Kleinen beginnt bereits Urtheil und Gedächtniß sich zu entfalten, und jedesmal entdecke ich eine neue Erscheinung. Kürzlich begleitete sie mich ans Grab meiner Mutter, das sie nur einmal, und zwar vor 9 Wochen gesehen. Sie lief schon von weitem auf die Stelle zu, mir zurufend: da schläft die Großmama Gegenbaur! Meine beiden Neffen, die viel älter, und doch dazu a den ganzen Sommer um meine Mutter waren, haben derselben noch mit keinem Worte erwähnt! Mein Töchterchen hatte mir gleich am ersten Tage Wiedersehens mitgetheilt: Großmama G. ist nicht mehr da! So habe ich vielerlei zu beobachten, und auch von dieser Seite reichen Stoff zum Nachdenken. Nebenbei arbeite ich einiges an meinem Buche, wenig zwar, aber doch viel leichter als es mir in W. möglich || wäre. Von W. kann ich Dir sonst nichts melden, ich sehe außer den Meinigen tagsüber niemand, und des Abends treffe ich einige Bekannte in der Harmonie. Besuche wurden und werden keine von mir gemacht. So sind es denn nur ein paar Fäden die mich mit W. verbinden.

Gegen Mitte October gedenke wieder nach Jena zu gehen, vielleicht ist es dann noch möglich Dich dort zu treffen, obschon ich’s Dir nicht wünschen mag. Für alle Fälle sage ich Dir jetzt schon ein herzliches Lebewohl. Möge Mutter Thetis Dir wie immer gütig sein, und auch Euphrosyne sich zu Dir gesellen! Unter blauerem Himmel und in schönerer Natur finde und gewinne Ruhe und Frieden. Versenk im Meere all den Kummer und das Elend der letzten Jahre, und laß Dir daraus die Bilder der Vergangenheit in verklärter Schöne widerspiegeln. Ich werde indessen Deiner fleißig gedenken, und auch über die Ferne hin Dein täglicher Begleiter sein in Gedanken, und mich freuen auf den Tag der Wiederkehr. Leb wohl, auf Wiedersehen!

Mit brüderlichem Kuß und Gruß unveränderlich

Dein C. G.

Deine schriftlichen Aufträge vorzufinden erwarte ich, sie sollen pünctlichst vollzogen werden. Auch hoffe ich auf Nachricht sobald Du ein bestimmtes Reiseziel erreicht hast.

a Von oben eingefügt: dazu.

Brief Metadaten

ID
9940
Gattung
Brief ohne Umschlag
Entstehungsort
Burgsinn
Entstehungsland aktuell
Deutschland
Entstehungsland zeitgenössisch
Königreich Bayern
Datierung
02.10.1866
Sprache
Deutsch
Umfang Seiten
3
Umfang Blätter
2
Format
13,8 x 21,6 cm
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 9940
Zitiervorlage
Gegenbaur, Carl an Haeckel, Ernst; Burgsinn; 02.10.1866; https://haeckel-briefwechsel-projekt.uni-jena.de/de/document/b_9940