Carl Gegenbaur, an Ernst Haeckel, Burgsinn, 2. Oktober 1864

Burgsinn, 2. October | 1864.

Liebster Freund!

Während ich Dich noch auf der Reise glaubte und gerade Dir zu schreiben beabsichtigte, daß Dein Vorschlag, Dich noch auf der Endstrecke der Reise zu begleiten, mir nicht gut annehmbar sei, erhielt ich Deine lieben Zeilen aus Berlin. Ich freue mich recht innig mit Dir daß Deine Wanderung, trotz des Unfalles der einer Fortsetzung Einhalt gebot, glücklich ausgefallen, und Dir vor Allem Linderung des Schmerzes gebracht hat. Auch bei mir hat die Zeit, die seit unserer Trennung verflossen, größere Faßung gebracht wenigstens nach außen hin, denn die Empfindung der Größe meines Verlustes kann auch die Zeit nicht zerstören. Indem sie mir aber daneben den Muth aufgerichtet hat, wage ich wieder den Blick zu erheben, sowohl rückwärts auf so vieles Liebe, Empfundenes wie Erlebtes, und auch vorwärts auf meine Pflichten und Aufgaben. Während meiner nahebei fünfwöchentlichen Existenz in ländlicher Abgeschiedenheit bin ich recht viel mit mir selbst verkehrt, auch viel mit der Natur, und der Versuch in der Arbeit nicht blos Zerstreuung zu finden ist mir endlich doch geglückt. Seit einer Woche sitze || ich wieder mit einigem Intereße am Microscope, und studiere am Knochenbildungsproceße, und finde mich so wieder allmählich in ernstere Beschäftigung. Dabei hoffe ich mit dem Semesterbeginn wieder im Stande zu sein meinen Obliegenheiten nachzukommen. Es ist mir aber recht schwer geworden mit der tiefen Wunde im Herzen auf die gewohnte und einzig sichere Bahn zurückzukommen. Recht schwer! Aber es muß sein, und wird sein. Ich kann vielleicht sagen daß meine Natur durch die große Schule der Leiden und Widerwärtigkeiten durch die ich mehr als mancher andre hindurchgegangen bin, auch gekräftigt wurde zum Tragen des Schwersten. Von Jena habe ich gestern wiederum beruhigende Nachricht erhalten. Meinem Töchterchen geht es gut. Das sind mir immer frohe, schmerzlich-frohe Augenblicke in denen ich lese daß die Kleine gedeiht. Ich könnte, diesen Winter wenigstens, das Kleine Schmerzenskindlein nicht von mir laßen, es muß mir bei Allem doch noch eine Quelle des Trostes sein. –

In 10–12 Tagen gedenke ich von hier weg zu gehen, und direct nach Jena zu reisen. Würzburg werde ich im Bahnhofe paßiren. Dort zu verweilen ist mir bei meiner gegenwärtigen || Stimmung ganz unmöglich.

Indem ich lebhaft wünsche daß Du Deine lieben Aeltern denen ich mich bestens zu empfehlen bitte, in erfreulichem Wohlbefinden verlaßen mögest, rufe ich Dir zu: Auf baldiges Wiedersehen in Jena!

Unveränderlich Dein, auch im Unglücke Dir verbrüderter

C. Gegenbaur

Brief Metadaten

ID
9932
Gattung
Brief ohne Umschlag
Entstehungsort
Entstehungsland aktuell
Deutschland
Entstehungsland zeitgenössisch
Kurfürstentum Hessen
Datierung
02.10.1864
Sprache
Deutsch
Umfang Seiten
3
Umfang Blätter
2
Format
14,0 x 21,3 cm
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 9932
Zitiervorlage
Gegenbaur, Carl an Haeckel, Ernst; Burgsinn; 02.10.1864; https://haeckel-briefwechsel-projekt.uni-jena.de/de/document/b_9932