Bölsche, Wilhelm

Wilhelm Bölsche an Ernst Haeckel, Schreiberhau, 7. Juni 1919

Schreiberhau i/R.

Turmvilla.

7.6.19.

Lieber Freund!

Herzlichste Pfingstgrüße! Es ist hier in den Bergen leider gar kein Pfingsthauch, der Sturm pfeift so kalt, als sei er nur die Melodie zu dem unheimlichen Stück, das auf der Weltbühne gespielt wird. Meinen Brief aus Zwickau wirst Du erhalten haben, zu neuer Reise habe ich mich noch nicht entschließen können, da die Bahnnöte und Reiseunkosten noch immer ungeheuerlich sind. Inzwischen freue ich mich noch immer Deines reizenden Radiolarienblattes. Solltest Du noch in einer Mußestunde zur Vollendung der größeren Tafel kommen, so wäre || es mir natürlich ein Fest! Das kleine Kästchen der Radiolarienproben von Anno dazumal ist mir und besuchenden Freunden immer noch eine Quelle unverwüstlicher Freuden, – heute in den unklaren und niederdrückenden Zeiten ganz besonders. Auf mir lastet immerzu das schmerzvolle Entsagen, daß soziale Fortschritte und freier Bildungsgeist, wie ich sie in jungen Jahren als irgend einmal kommend ersehnte, im Augenblick nicht organisch aus der Knospe brechen, sondern mir eingequalmt erscheinen in den Rauchwolken dieses schauerlichen Weltenbrandes, verquickt mit einem Zusammenbruch unseres Deutschtums, Triumph || rohester Gewaltmächte und Hohngeheul der Dummheit und Unkultur ohne gleichen. Ich bin im Innersten unverwüstlicher Optimist genug, um auch aus diesem Chaos die Auslese des Besseren zu erwarten, aber es ist eine verzweifelte Belastungsprobe!

Um möglichst weit fort in wirkliche Feiertagsstille unberührter Forschung zu wandern, lese ich grade den eben fertigen ersten Band von Theodor Arldts „Handbuch der Paläogeographie". Das Gebiet fesselt mich seit längerer Zeit immer mehr und erweist sich als nachgerade wirklich sehr fruchtbar. Wenn ich denke, wie arm und phantastisch die ersten geologischen Umrißkärtchen alter Festländer und Meere vor 40 Jahren || noch waren! Jetzt gestaltet sich da eine echte Wissenschaft heraus. Sollte Dir das schöne Werk zur Hand sein, so empfehle ich es sehr, es wirkt thatsächlich wie ein beruhigendes Mittel, das unsere (zu allerletzt sind sie‘s doch!) Froschmäusekämpfe sub specie aeterni antiquiert.

Das kleine Eiszeitbändchen, das ich beifüge, mag Dir zeigen, wo ich mich, nach meiner Weise bummelnd und in der Fülle der Stoffe herumpickend, in letzter Zeit herumgetrieben. Es werden wenigstens jetzt wieder Bücher gedruckt, wenn auch so zu sagen auf Lokuspapier. „Sonnen und Sonnenstäubchen" ist in der Neuausgabe in kurzer Zeit ganz aus-||verkauft worden und kommt eben neu heraus. Auch „Liebesleben" ist mit dem 50.–54. Tausend neu heraus, immerhin eine recht hohe Ziffer, wenn man an den leidig hohen Preis denkt. Meine Kosmosbändchen werden Dich vielleicht durch Ihre Verbreitungsziffer amüsieren, ich habe sie kürzlich in einer Abrechnung erhalten: Abstammung des Menschen 90 000 Expl., Eiszeit 85 000, Festländer u. Meere im Wechsel der Zeiten 120 000, Pfahlbauten 110 000, Mensch der Vorzeit 89 000, Mensch der Zukunft 110 000, Schutz u. Trutzbündnisse in der Natur 85 000, Sieg des Lebens 34 000, Stammbaum der Insekten 86 000, Stammbaum der Tiere 47 000, Im Steinkohlenwald 60 000, Tierwanderungen 12 000, zusammen über eine Million Exemplare. Wenn meine bescheidenen kleinen Beiträge zur Volksbildung bisweilen von eifrigen Fachpropheten als gänzlich wertlose und abzulehnende Außenseiterei zurückgewiesen werden, || so denke ich mir doch immer wieder, daß da draußen „außenseitlich" vielleicht eine Million Menschenkinder gestanden hätten, die ohne solches Bändchen Skat gespielt oder in Kneipgesprächen gekannegießert hätten in der Stunde, die sie so immerhin bei ernsten Fragen zugebracht haben.

O. Hertwigs „Werden der Organismen" habe ich kürzlich jetzt auch genau durchgelesen. Eine Anzahl rein referierender Kapitel sind sehr hübsch u. anschaulich, der polemische Teil aber ist wirklich hochgradig leer. Ueberall die kühnste Verheißung eines „Gesetzes der Entwicklung", das Selektion u.s.w. ersetzen soll, und schließlich erscheint wirklich die ridiculus mus: daß es sich vorläufig wie || es S. 636 der 2. Aufl. charakteristisch heißt, um „uns gänzlich unbekannte Naturgesetzmäßigkeiten" handle. Ja da sind wir auch nicht weiter: mit „gänzlich unbekanntem" als Ersatz!! Darwin war nach Hertwig ein Mann, der „in der logischen Fassung seiner Gedanken" es „aller Orten an der wünschenswerten Schärfe fehlen" ließ. Dann können wir ja freilich noch lange warten, bis endlich der logische Heiland kommt!

„Das Kalte wird warm,

Der Reiche wird arm,

Der Narre gescheit,

Alles zu seiner Zeit,“ –

wobei Zeile drei einstweilen in der politischen Welt fraglich.

Dein getreuer

Wilhelm Bölsche

 

Letter metadata

Verfasser
Empfänger
Datierung
07.06.1919
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 9752
ID
9752