Wilhelm Bölsche an Ernst Haeckel, Friedrichshagen, 16. Februar 1918

Friedrichshagen,

Seestr. 63.

16.2.18.

Lieber Freund!

Mein Besuch bei Dir hat sich leider nochmals etwas hinausgeschoben, ich bin aber im Augenblick in Folge meiner immerzu wechselnden Vortragsdispositionen (zusammenhängend mit den Kriegsschwierigkeiten der zu heizenden und zu beleuchtenden Säle) gar nicht mehr Herr meiner Zeit. Von meiner ohnehin sehr viel länger ausgedehnten Frontfahrt wurde ich eilig hierher || gerufen, und im Moment ordnet sich erst meine weitere Vortragsfahrt in Formen, die an die Zickzackkarte weiland des Kandidaten Jobs erinnern. Jedenfalls komme ich aber dabei über Weimar und dann auf 1-2 Tage zu Dir, worauf ich mich längst so sehr freue.

Also meine Westfahrt war lang (3 Wochen), aber sehr lohnend. Nach meinen romantischen Schneeabenteuern in Bialowies war‘s diesmal eine (ich möchte fast sagen) gemütlichere Exkursion, obwohl die || Fliegerangriffe fast allnächtlich prasselten und immerzu (trotz jetzt schwacher Kämpfe) das rote Wetterleuchten und dumpfe Gewittergrollen vom Horizont meine Vorträge zeitgemäß illustrierte und unterstrich. Ich habe einen Fleck Welt gesehen, in den man sonst so leicht nicht verschneit. Als Hauptquartier hatte ich Tournai (alte schöne Stadt mit wundervoller Kathedrale), wo ich im Feldlazarett bei Professor Schlösser (Augenarzt aus München, ein begeisterter Verehrer von Dir) wohnte und nicht nur geistig, sondern auch köstlich kulinarisch || verpflegt wurde. Die alten und besten Burgundersorten werden jetzt dort von den findigen Behörden ausgegraben, nachdem die schlechteren ausgetrunken sind, auch ließen die Bayern, bei denen ich (6. Armee) weilte, es an Nürnberger Bratwürstchen und andern Delikatessen nicht mangeln. Ach, man wird gasträisch in diesen Zeiten! Die 6. Armee hatte regelrechte Hochschulkurse eingerichtet (Doflein, Sombart, Dessoir u. a. sprachen) an die ich trotz meiner „Unzünftigkeit" diesmal angeschlossen war. Ich redete über Schutzanpassung und Mimikry („Feldgrau in der Natur"). Von Tournai machte ich || dann Vortragsabstecher nach Lille (sehr zerschossen und durch die furchtbare Munitionsexplosion pompejiartig zerstört in ganzem Stadtviertel), Douai (dicht an der Front, mit wildestem und lustigstem (Contraste berühren sich) feldgrauem Massenleben, alles strömte von und zu den Schützengräben, völlig Wallensteinslager mit allen Theatereffekten des guten Schiller in die brausende Wirklichkeit übersetzt, – unvergeßlicher Eindruck; und diese schöne Prachtkraft junger Leute, Deutschland in Reinkultur seiner Menschenherrlichkeit!) – dann Leuze (die Leute sprechens || wörtlich, grade wie sie Mau-Beuge sagen) im Feldlazarett, Vortrag vor Aerzten, Verwundeten, Schwestern, sie konnten nicht genug kriegen, ich redete von ½9 bis ½12 in einem Tango durch; das Lazarett war im Nonnenkloster, – auch ein guter Ort für das Ketzerscheusal; aber reizende Leute, die Stabsärzte, auch hier wie in Tournai, frei, aufgeklärt, mutig.), Autofahrt nach Valenciennes wo die aus der Schußlinie geretteten Gemälde, Gobelins etc. von den „Barbaren" unendlich liebevoll zum Zurückgeben bewahrt || werden, Bernissart, wo die Iguanodonten gefunden worden sind, – Mons (bayr. Hauptquartier) u.s.w. Ueberall größte Anteilnahme, reizende Menschen, Mut und Zuversicht, – wenn sie bloß daheim aushalten wollten; freilich auch der Burgunder und die Bratwurstglöckli und was sonst, die Seele mit Energie heizen! – Dann blieb ich noch 5 Tage in Brüssel. Der Generalgouverneur von Belgien, Generaloberst von Falkenhausen, hatte sich telegraphisch meinen Vortrag für sich bestellt, ich redete sehr feierlich im belgischen || Senatssaal vor goldenen Stühlen. Uebrigens ein reizender, ganz aufgeklärter alter Herr. Brüssel schwelgt, liebt, tollt in allen Genüssen, hat alles für viel Geld, das den Feldgrauen aus der Tasche gezogen wird. Dazu junger Frühling, Sonne, – es war schon ein gewaltiges Zeitbild, das Herz auffrischend gegenüber der Nebelnacht, die daheim immer wieder auf einen fällt. Alles weitere mündlich.

In Treue

Dein

W. Bölsche

Brief Metadaten

ID
9746
Gattung
Brief ohne Umschlag
Entstehungsort
Entstehungsland aktuell
Deutschland
Entstehungsland zeitgenössisch
Deutsches Reich
Datierung
16.02.1918
Sprache
Deutsch
Umfang Seiten
8
Umfang Blätter
4
Format
14,1 x 17,4 cm
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 9746
Zitiervorlage
Bölsche, Wilhelm an Haeckel, Ernst; Friedrichshagen; 16.02.1918; https://haeckel-briefwechsel-projekt.uni-jena.de/de/document/b_9746