Wilhelm Bölsche an Ernst Haeckel, Friedrichshagen, 15. Oktober 1917
Friedrichshagen b. Berlin
Seestr. 63.
15.10.17
Lieber Freund!
Eben aus den Rübezalbergen wieder hierher zurückgekehrt möchte ich Dir einen herzlichen Gruß senden. Die Sommermonate sind mir in der Unruhe und Stimmungs-Zerfahrenheit der Zeitlage unheimlich rasch hingeflogen. Vier Wochen war unser Karl auf Urlaub bei uns in Schreiberhau. Er wurde im Juni (grade zu seinem 18. Geburtstag) einberufen und zwei Monate bei der Feldartillerie in Osterode (Ostpreussen) ausgebildet. Dann brach dort eine böse Ruhrepedemie aus, die ihn selbst glücklicherweise verschonte, indirekt aber || einen längeren Urlaub zu uns ermöglichte. In‘s Feld sollen diese ganz jungen Leute von 1899 vorerst noch nicht. Als er in seine Kaserne zurückkam, wurde er gleich selber zum Rekrutendrillen angestellt. Er ist dabei sehr guter Dinge und bedauert nur, nicht gleich nach Riga oder Bagdad in‘s Feuer zu kommen. Er erhielt zum Eintritt noch die Oberprimareife, und ich hoffe, daß er trotz aller Kriegsabenteuer „post tot discrimina rerum" doch noch ein leidliches Notabiturium hinterher herausbekommen wird. Na, man darf in diesen || Zeiten nicht von Zukunft reden, alles ist Gegenwart. Ich weiß nicht, ob ich Dir schon erzählte, daß ich nach meiner hochinteressanten Wisent-Streife nach Bialowies im Frühjahr noch weitere reizende Tage im Mai am schönen Schweriner See (als Gast des Herzogs Johann Albrecht – des grade jetzt viel genannten – auf Schloß Wiligrad) verbracht habe. Ich lernte den Herzog bei Gelegenheit eines Vortrags in Schwerin kennen, wir fanden vielerlei geistige Berührungspunkte (bei regem Interesse für Naturwissenschaft und phylogenetische Probleme auf seiner Seite), und so || ergaben sich die anregensten [!] Gespräche auf täglichen gemeinsamen Spaziergängen durch die herrlichen Buchenwälder, in denen das Schloß wie ein idyllisches Forsthaus ganz einsam liegt.
Eigentlich gearbeitet habe ich wenig in dem Sommer. Ein kleines Kosmosbändchen über Symbiose, – dann eine stark umgearbeitete Neuausgabe meiner „Sonnen und Sonnen-stäubchen", die (durch die Papiernot verzögert) dieser Tage endlich herauskommt und Dir zugeht. Das Radiolarienkapitel, zu dem du mir vorigen Winter ein so reizendes Privatissimum lasest, habe ich ziemlich || erweitert, auch sonst allenthalben herumgefeilt. Im Ganzen ist ja, wie Du aus langer Erfahrung weißt, solches Neuputzen alter Bücher zu Neuauflagen immer ein bischen leidige Flickarbeit. Doch freut mich, daß das Buch immer noch weiter leben will, selbst in den argen Kriegstagen. Jetzt bereite ich grade wieder einen Bildervortrag für den Winter vor, der u.a. auf Wunsch der Heeresleitung auch in Lille etc. bei den Soldaten hinter der Westfront gehalten werden soll. Ich habe als Thema „Feldgrau in der Natur" angesetzt, Deckwort für Schutzfarben, Mimikry und Verwandtes. Ich habe von Doflein, Jacobi in Dresden und andern (auch aus dem neuen Brehm) sehr || anschauliches Bildermaterial dazu, auch eine Anzahl famoser Naturphotographien von Georg Schulz in Berlin, so daß ich‘s den Leuten ganz plausibel zu machen hoffe. Es wird in manchen Kreisen jetzt so wüst auf diese Dinge geschimpft, daß es wohl lohnt, wieder dafür einzutreten. Ich weiß nicht, ob Dir das Buch „Mimikry" von Jacobi (Direktor des schönen zool. Museums in Dresden), das grade vor Kriegsanfang noch erschienen ist, zufällig in die Hand gekommen ist, – ich habe es mit sehr viel Genuß und Bereicherung gelesen. Da ich in dem Vortrag auch auf die Farben der Meertiere || komme, hätte ich Lust, Dein altes Prachtbild der Korallenbank aus den „Arabischen Korallen" den Hörern vorzuführen. Hast Du etwas dagegen? Ich habe hier in Herrn Karl Spohr eine vorzügliche Hülfe, der ein jedenfalls erstklassig gutes Lichtbild danach kolorieren würde. Das Bild gibt so sehr gut den blauen Stimmungszauber solchen Nixengrundes wieder.
Im Dezember wird mich wohl die Spechtstiftung wieder nach Gotha und also auch nach Jena führen.
Auf frohes Wiedersehen also!
Dein treu
ergebener Wilhelm Bölsche