Bölsche, Wilhelm

Wilhelm Bölsche an Ernst Haeckel, Friedrichshagen, 2. Juli 1915

Friedrichshagen

b. Berlin, Seestr. 63.

Lieber Freund!

Hoffentlich hast Du nach den bewegten Stunden so schweren Lebensabschiedes Dich inzwischen wieder zum stillen ernsten Frieden der Arbeit gerettet, die ja schließlich im Bunde mit Anteilnahme und Liebe für alle über uns hinaus weiter fortschreitenden Geisteswerte der wahre Trost in diesem (wie der alte Schopenhauer sagte) „durchweg zweideutigen Leben" bleibt. Sollte irgend einmal in diesem Sommer der Wunsch bei Dir auftauchen, in treuem Freundesheim ein paar Wochen der Sommerfrische || in kräftigender und erfrischender Gebirgsluft zu verbringen, so sei Dir „Haus Bölsche" in Schreiberhau empfohlen, kein modernes Hotel mit glänzendem Comfort, aber eine stille und behagliche Klause zwischen Apfelbäumen und Erdbeeren. Die Verkehrsverhältnisse sind jetzt so, daß Du mit der Bahn bis 10 Minuten von unserm Hause gelangen und auch diese 10 Minuten noch im Wagen fahren könntest, ebenso wie die schönsten Punkte des Gebirgskamms jetzt alle mit dem Wagen zu erreichen sind (Schneegrubenbaude, Prinz Heinrich Baude). || Meine Frau mit den Kindern ist schon dort, ich selbst folge Mitte Juli nach. Meiner Frau geht es im Ganzen wieder leidlich, nur muß sie sich jetzt einer ziemlich strengen Kur unterwerfen, da sich leider zu ihrem Gallenleiden Diabetes gesellt hat, der gleich akut in einem recht heftigen Anfall auftrat. Ihre äußerst kräftige Natur und gute rheinländische Laune kommt aber immer wieder über alles hinweg. Ich selbst kriege graue Haare, die aber einstweilen, wie es scheint, noch nicht nach innen ins Gehirn abfärben. Ich lebe und arbeite hier still hin in der wunderbaren abwartenden Ruhe, die über uns allen trotz der furchtbaren Stunde liegt. Der See vor || mir ist voller Segel und Ruderboote mit lachenden und singenden Menschen, bekränzte Kremserwagen fahren in‘s Grüne, – wir Deutschen sind unverwüstlich! Uns beide hat wohl Italien am meisten geschmerzt, – mir war‘s wie der Bruch einer alten Lebensliebe. Denn eigentlich habe ich doch nicht bloß die alten Säulen und die Tintenfische im Aquarium geliebt, sondern auch das italiänische Volk, das jetzt so jämmerlich verhetzte und schließlich verratene, denn es wird selber noch die böseste Suppe ausessen müssen in der Hand des englischen und russischen Egoismus. Diese schmutzigen || und doch so liebenswürdigen Straßenkinder kommen mir wie die armen Hanswürste dieser Weltkatastrophe vor, die ein paar Lumpen ins Feuer hetzen, wo sie jämmerlich untergehen werden, all die schöne, edle, gesunde Arbeit mitreißend, die der gute Geist dieses Volkes seit der Einigung Italiens schon wieder für den wirklichen "Ruhm" dieser alten Kulturzentrale gethan hatte. Und wenn ihnen die Augen aufgehen, werden sie mit langem Haß vergiftet sein gegen das einzige Volk, das ihnen wirklich Brudergefühle || aus der tiefsten Tiefe des deutschen Gemütes entgegenbracht hat und unverwüstlich bringt. Wir wissen beide, wie tief und echt das bei uns saß und sitzt. Aber in diesem Operettenspiel der D‘Annuncios – wer kümmert sich um diese heiligen Werte der Tiefe. – – In der Berliner Gruppe des deutschen Monistenbundes scheint der Krieg auch wunderliche Dinge gezeitigt zu haben. Ich höre, daß Juliusburger ausgetreten ist, weil er den kuriosen Menschenkindern dort zu „national" gesinnt gewesen sei, während man eine extrem internationale Stimmung, die den schweren augenblicklichen Existenz-||kampf des Deutschtums lieber nach gefärbten Auslandsstimmen als aus dem eigenen Herzen und Gewissen beurteilt, nicht für unvereinbar mit dem deutschen Monistenbund zu halten scheint. Ich bin wahrhaftig nie ein Mensch gewesen, der den Wert eines gesunden Internationalismus verkannt hat, eines Internationalismus, der doch so wenig das Nationale ausschließt und ausschließen darf, wie menschliches Gemeinwesen das Individuum ausschalten kann. Aber heute meinen gewisse seltsame Käuze bei uns, sie hielten die ethische Fahne internationaler Gesinnung aufrecht, wenn sie der Times || oder sonst einem Auslandsblatt glauben, die Deutschen fielen als Hunnen über die Kultur her und schnitten kleinen Kindern die Hände ab, – wo sie doch selber als Deutsche wissen sollten, was sie sind, und nicht erst eine englische Zeitung darüber zu konsultieren brauchten. Uebrigens konnte ich aus Autopsie diese Monistenbunddinge nicht mehr selber verfolgen, weiß also nicht, wie weit sie gehen. Als ich nämlich zuerst davon hörte und mein Erstaunen äußerte, daß ich als Vorstandsmitglied nicht zu den betreffenden Sitzungen eingeladen gewesen || sei, ward mir die Kunde, daß ich ja seit einiger Zeit gar nicht mehr Vorstandsmitglied sei. Man hatte sich nicht einmal die kleine Mühe gegeben, mir davon auch nur eine Mitteilung zu machen. Als schlimmes Aergerniß, das ich gegeben, wurde angeführt, ich hätte mehrere Sitzungen nicht besucht, die in die Zeit fielen, da ich noch in Schreiberhau weilte. Nun, ich hatte s. Z. dem damaligen Vorsitzenden, der mich bat, in den Vorstand einzutreten, erklärt, ich weilte oft ein halbes Jahr lang in Schreiberhau und würde also nicht immer pünktlich || kommen können. Man sagte mir damals, das schade nichts, da man auf meine Person allgemein Gewicht lege. Jetzt wird ein dolus daraus gemacht! Am Ende bin ich den Leuten dort auch noch zu national gesinnt. Ich wollte Dir den Hergang bloß wenigstens erzählen, damit Du nicht etwa hörst, ich hätte mich in dieser ernsten Stunde zurückgezogen. Na, schließlich sind‘s Kinderkrankheiten dort, die alles Vereinsleben einmal durchmacht, es wird auch wieder eine Auslese || des Passenderen sich zuletzt wieder vor gesundem Grundprinzip durchsetzen. Es ist ein merkwürdiger Fluch in solchem Vereinsleben. Durchweg habe ich den gleichen Verlauf gesehen. Tüchtige gründen ihn, dann kommt eine dicke Schicht Unfähigkeit hoch, die absolut regieren will, aber es schließlich nicht kann, worauf dann in der Not neue Tüchtige herangeholt werden müssen, die nun wirklich bleiben. Ist das Prinzip selbst schwach, so geht es auf Stufe zwei zu Grunde. Aber davor ist mir bei der monistischen Bewegung nicht bange, sie wird sich schon durchbeißen. ||

Die Neubearbeitung von Carus Sterne‘s „Werden und Vergehen" macht mir noch immer viel Arbeit. Ich habe die paläontologischen Teile ganz um und um gearbeitet, die theoretischen Kapitel dagegen scheinen mir immer noch so gut, daß ich nicht viel ändern möchte. Ein gewisses Kopfzerbrechen macht mir noch das Kapitel „Die Gestalten des Mineralreichs" in Bd. I. Ich gab es zwei Fachmännern auf dem Gebiet zu lesen, von denen der eine es für völlig einwandfrei, der andere es für völligen Unsinn von vorne bis hinten erklärte. Wenn Du auch einmal in einer Mußestunde einen Blick hineinwerfen wolltest und mir Deine Meinung sagtest, wäre ich Dir außerordentlich dankbar. || Ich hätte nämlich Lust, das Kapitel ganz so wieder abzudrucken und in der Vorrede nur kurz zu sagen, daß es sich grade hier um ein zu bewahrendes geistesgeschichtliches Dokument handle. In dem Kapitel steht nämlich die berühmte Kohlenstoffstelle, die einst so heftig in den Kampf geriet, und es ist auch sonst ein so völlig individuelles Bekenntniß des Autors, daß dieser Pietätsstandpunkt wohl zu rechtfertigen wäre. In Vielem hat ja solches Neubearbeiten älterer, so zu sagen klassischer Werke (durch einen Andern) vielerlei Gefahren. Du selbst solltest, meine ich, einmal eigene Richtlinien || aufzeichnen, wie Du spätere Bearbeitungen Deiner „Schöpfungsgeschichte" u. „Anthropogenie" Dir denkst. Es gäbe da neben der Möglichkeit späterer „Erhaltungen auf dem Laufenden" in den reinen Thatsachen jedenfalls noch die andere zu erwägende Form einer letzten von Dir genau durchgesehenen editio, die überhaupt nicht mehr zu verändern, sondern als klassisches Dokument so weiter zu drucken wäre etwa wie heute Humboldts Kosmos oder Darwins Werke. Daß Neubearbeitungen, auch wenn sie direkt bona fide von Andern gemacht werden, gefährliche Aenderungen schaffen können, zeigt das || Exempel von Brehms Tierleben, das in der neuen Ausgabe zweifellos auch wieder in seiner Weise ein höchst reichhaltiges und vielbenutztes Werk sein wird, aber durch den Herausgeber, zur Strassen, grade die Tendenz, aus der Brehm schrieb, fast ganz herauskorrigiert hat, also heute ein falsches Bild grade von Brehm´s Lebensleistung selber gibt trotz des beibehaltenen Titels. Zu all diesen Dingen solltest Du, meine ich, einen ganz genauen eigenen Plan niederlegen, von dem kein Verlag, mindestens so lange die gesetzliche Schutzfrist läuft, abweichen dürfte. Vielleicht, wenn ich etwas raten darf, wäre auch eine solche ganz präzise Bestimmung über die Bilder nötig. Bei diesen Deinen Werken bilden Wort || und Bild (besonders in der „Anthropogenie") eine so untrennbare Einheit, daß es ein grausiger Gedanke wäre, Deinen Text später einmal mit einer beliebigen Dutzendillustrierung von irgend eines Herausgebers Laune zu sehen anstatt mit dem Stück eigenster Persönlichkeit, die bei Dir auch in den Bildern steckt.

Mit den herzlichsten Grüßen

Dein

Wilhelm Bölsche

 

Letter metadata

Verfasser
Empfänger
Datierung
02.07.1915
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 9732
ID
9732