Wilhelm Bölsche an Ernst Haeckel, Nordhausen, 24. April 1915
Nordhausen, den 24.4 1915
Lieber Freund!
Die traurige Nachricht, die ich erst verspätet auf der Reise erfuhr, hat mich schmerzlich überrascht, obwohl eine frühere Kunde von neuen schweren Leiden der lieben Entschlafenen vorbereiten mußte. Noch bei den letzten unvergeßlichen Stunden, die ich mit meiner Frau bei Euch verlebte, erschienen mir Aussehen und Wesen Deiner Gattin so frisch, daß es über die Schwere des Zustandes den Gast wohl hinwegtäuschen konnte, – aber wir wissen ja beide aus ernster Erfahrung, daß die Natur in ihrem streng gesetzlichen Wege unerbittlich ist. Meine Gedanken aber verweilen in inniger Teilnahme bei Dir, lieber Freund, || dem neben allem Glanz doch auch keine Resignation des Lebens erspart zu sein scheint, – so auch diese besonders herbe nicht, die an die zartesten Regungen Deines tiefen Gemütslebens greift. Wenn Andere in der offenen Welt da draußen Dich nur im hellen Licht der That Deines Geistes kennen und werten, so darf ich mich zu dem engerem Kreise derer rechnen, die in das Geheimleben Deines herrlichen Gemüts öfter hineinschauen durften und um so mehr weiß ich, wie hart Dich dort jeder Schlag trifft, – umso mehr, wenn, wie hier, ein Menschenalter in Leid und Liebe und allem Tiefen, was Menschenherzen bewegt, hinter dem Verlust steht. Möchte Dich aber das auch im blutenden Herzen zuletzt trösten, was immer der Trost Deines stolzen Denkergeistes gewesen ist: Blick auf das Ganze, in dem die kleine Welle nach heiligem Gesetz immer wieder verrauschen muß. „Blätter verweht zur Erde der Wind nun, – andere treibt dann wieder der knospende Wald" heißt es schon bei Homer, und es bleibt das tiefe Weltenlied, dem wir uns || fügen müssen. Gern wäre ich auf die Nachricht hin persönlich zu Dir hinüber geeilt, aber die nicht aufzulösende Pflicht einer Vortragsfahrt hielt mich fest, und nach ihrer Erledigung muß ich eilig ins eigene Heim zurück, denn auch dort ist Krankheit im Werk, meine Frau ist an einer heftigen Rippenfellentzündung jäh erkrankt und bei dem nicht so ganz guten Zustande ihres Herzen bedeutet das immerhin eine gewisse Gefahr. Wenig später aber hoffe ich, Dir in Jena die Hand drücken zu können.
Herzlichstes Beileid auch den Angehörigen Deiner Familie, besonders den Kindern, denen die liebe Mutter || geschieden ist.
In alter Liebe und Treue Dein
Wilhelm Bölsche