Wilhelm Bölsche an Ernst Haeckel, Friedrichshagen, [November 1910]
Friedrichshagen
b. Berlin, Seestr 63.
Lieber Freund!
Endlich einmal wieder ein Gruß vom Müggelsee! Wir sind in diesem Jahr bis tief in den November in Schreiberhau geblieben, da der Herbst so hervorragend schön blieb. Eigentlich hatte ich vor, in diesen Tagen persönlich einmal in Jena bei Dir anzuklopfen, da am 11. d.M. Sitzung der Specht-Stiftung in Gotha || sein sollte. Die Sitzung mußte aber verschoben werden, und so werde ich wohl erst im Laufe des Januar einmal hinüber kommen. Wie Du gesehen haben wirst, bin ich jetzt endlich mit dem Neudruck des „Liebeslebens" fertig geworden. Schließlich wurden‘s doch wieder drei Bände statt zweien. Im Uebrigen hat mich im letzten ganzen Jahr wesentlich eine dichterische Arbeit (Roman) beschäftigt, ich denke, daß er im || nächsten Jahr fertig sein wird. Es zog mich längst wieder einmal magisch nach der Seite, – Du weißt ja, wie man immer wieder zu seinen ersten Lieben zurückkehrt, – es hat auch einmal sein Gutes nach aller Weisheit und Philosophie, – Kunst bleibt Kunst! In Folge dessen habe ich diesen Sommer aber auch so einsiedlerisch gelebt, daß ich von allen Dingen Himmels und der Erden kaum etwas gesehen und gehört habe. Im kommenden Frühjahr geht‘s aber wieder an Vorträge, ich muß in Berlin, Wien, München, Hamburg, Dresden reden.
Sehr habe ich mich über Deinen launigen Psyche-Aufsatz im „Berl. Tageblatt" amüsiert.
Ist Dir zufällig in letzter Zeit einmal ein kleines Buch von Soddy „Die Natur des Radium" (in Ambrosius Barths Verlag) in die Hand gekommen? Abgesehen von ein paar ziemlich nichtigen Schlußseiten ist es, wie mir || scheint, eine recht wertvolle Uebersicht über die wirklich märchenhaften Dinge, die doch die moderne Physik und Chemie jetzt an der Ecke heraufzaubern. Ich habe viel Genuß von dem Werk gehabt. Mit kommen kann ja bei dem Tempo, mit dem diese Dinge sich häufen, eigentlich kein Mensch mehr!
Neulich war der Bildhauer Selke und zeigte mir die Büste, die er von Dir gemacht hat. In vieler Hinsicht ist es sicherlich || die ähnlichste, die bisher existiert, wenn auch die Methode an sich mit ihrer Eselbrücke des Photographierens die Leistung echten Künstlerblicks nie wird ersetzen können! Aber gefreut hat sie mich wegen der so zu sagen zoologischen Exaktheit doch, - als wertvolles Dokument, nach dem später einmal ein ganzer Künstler || etwas ganz echtes schaffen kann.
Das Einzige, was ich in letzter Zeit etwas spezieller verfolgt habe, ist die prähistorische Kunst in den französischen Höhlen. Bei Gelegenheit des Berliner Ankaufsstreites bei dem Le Moustier-Skelett hatte ich mich zufällig mit dem Schweizer Hauser angefreundet, der dort jetzt so eifrig thätig ist, und durch ihn habe ich viel Detail über diese Dinge gehört. Es sind doch hochinteressante Sachen. || Hast Du zufällig das Heftchen von Verworn darüber gesehen, – mit seinem Versuch, das absolut naturgetreue Zeichnen (wie in jenen diluvialen Tierzeichnungen) als eine ursprüngliche, primäre Fähigkeit zu erweisen, die erst auf weiteren Kunststufen durch Ueberwuchern des ornamentalen Sehens, Stilisierens und Phantasiezeichnens wieder zurückgedrängt worden wäre? Erstaunlich ist ja zweifellos || die Treffsicherheit in den Höhlenbildern, – mit drei Strichen ein absolut charakteristisches Bild. Und das doch offenbar (bei der Masse der Höhlenbilder, Schnitzereien etc) nicht als bloße Geniearbeit eines Einzelnen, sondern als Art Durchschnittsveranlagung eines ganzen Stammes!
Klaatsch hielt hier einen Vortrag über die neuen diluvialen Skelette, gerät aber doch, wie mir schien, immer mehr in‘s Nebelige. Er wirft || jetzt wieder alle seine eigenen alten Ideen um und konstruiert einen diphyletischen Menschenstammbaum, – Neanderthalera, Gorilla (als Seitenzweig), Neger b einerseits – und Aurignacenser, Orang (als Seitenzweig) Kaukasier etc. andererseits, –- eine kuriose Geschichte. – Sehr hübsche Ideen finde ich dagegen in dem neuen großen Quartheft „Sonderformen der menschlichen Leibesbildung" von Hans || Friedenthal. Er ist ein stilles Menschenkind, das nicht viel Spektakel um sich her macht, aber mit wunderbarer Zähigkeit seinen Weg geht.
Mit den herzlichsten Grüßen und allen guten Wünschen
Dein Wihelm Bölsche
a korr. aus: Neger; b gestr.: Neanderthaler