Wilhelm Bölsche an Ernst Haeckel, Friedrichshagen, 4. April 1905

Friedrichshagen b. Berlin,

Kaiserstraße, Abbe‘sches Haus.

4.IV.05.

Lieber Herr Professor!

Die Nachricht von Ihrem Kommen hat mir große Freude gemacht. Ich habe sogleich meine für d. 12. d.M. geplante Abreise bis zum 16. verschoben, so daß ich auf alle Fälle am 14. noch zu Ihrem Vortrage in Berlin bin. Meine Frau und ich wollen nämlich in diesem Frühjahr einen lange erwogenen Reiseplan endlich ausführen und || nach Italien (Rom, Neapel, Sizilien) fahren. Die Kinder lassen wir in treuer Obhut der Großeltern in Cöln. Meine Frau muß leider auf alle Fälle schon mit den Kindern in dieser Woche nach Cöln, (damit diese sich dort etwas einleben), sie bedauert ganz besonders, Sie nun nicht bei uns begrüßen zu können. Ich wollte so wie so noch ein paar Tage länger (nötiger Druckkorrekturen wegen) hier bleiben und dann direkt in Frankfurt mit ihr mich treffen, um nach dem Süden zu fahren. Nun schiebe ich das bis zum 16., – || weiter läßt es sich leider nicht schieben, da wir sonst auf der Hinreise in den Ostertrubel kämen. Ich zog gestern noch eine Erkundigung wegen Jules Sachs ein und hörte, daß es ein sehr angesehenes(r) Conzertunternehmen(r) sei. Jedenfalls wird Ihr Erscheinen im [!] Berlin im Moment von der größten Bedeutung sein. Sie sind grade in Berlin noch nie persönlich in den Geisteskampf getreten. Die Zahl Ihrer Anhänger hier ist kolossal, das öffentliche Interesse das denkbar stärkste. Nirgendwo in Deutschland fühlt man wohl || im Augenblick so stark, wie hier, daß wir in eine große politisch-religiöse Krisis hineinsteuern durch die wachsende politische Macht des Centrums. Alle für liberale Bewegungen geschaffenen Institutionen, die als solche so viel Opfer gekostet haben, wie beispielsweise unsere ganze Parlamentsvertretung, stehen auf dem Punkt, durch die unglückliche Constellation reine Centrumswaffen zu werden. Inmitten dieses || großen Kampfes fühlt man grade hier so recht, wie die protestantische Kirche mehr und mehr auch bloß zu einem läppischen Anhängsel der katholischen wird (vergl. den neuen Dombau! ) und jeden letzten Zug von echtem „Protestantismus" verliert.

Dazu kommen hier in Berlin kleinere, aber doch recht bedeutsame Krisen. Der Stamm echten Bürgertums reckt sich wieder etwas auf und macht sich endlich einmal wieder merkbar. Die Berliner Stadtverwaltung, von oben auf‘s Gröbste provoziert, hat in neuerer || Zeit sich endlich zu einer würdigen Sonderhaltung in geistigen Dingen aufgerafft. Sie hat gegen maßlose Uebergriffe der Kirche sich gewehrt, hat die Freireligiöse Gemeinde, den Giordano-Bruno-Bund, die „Freie Hochschule" demonstrativ durch Einräumung der Schul-Aulen und des Rathaus-Saales unterstützt, das alles unter lebhaftestem Beifall nicht bloß der tieferen, sozialistischen, sondern auch der mittleren Bürgerschicht. ||

Seit den „Kulturkampf"-Tagen ist hier keine allgemeine Bildungs-Stimmung gewesen, die so offen und rückhaltlos gegen die Kirche Front gemacht hat. Man fühlt allgemein, daß alle freien Richtungen – mögen sie in sich noch manche Differenzen haben – zusammen gehören in dem Kampf gegen das Partei-Pfaffentum und die große Hemmorganisation der Kirche. Eine Masse Elemente, die bisher noch um des „Religiösen" willen an der Kirche festhielten, beginnen jetzt zu ahnen, || daß auch sie eigentlich nach der freien Seite hinübergehören und daß die Kirche der Todfeind grade aller echten religiösen Stimmungen ist in dem Sinne, wie uns heute das Wort „religiös" allein noch einen Sinn haben kann: d.h. im Sinne ehrlich ringender Weltanschauung und Vertiefung in die Probleme der Welt; die Kirche ist der Todfeind gleich des ersten Schrittes zu solcher Vertiefung, indem sie das Selbstdenken lähmt. || Solche Gedankengänge haben sich in den letzten Jahren wieder einmal eine Schicht tiefer eingefressen und sie werden das an der Physiognomie des Publikums hier merken!

Ihr Vortrag wird für ganz Berlin ein Ereigniß sein! Ich selbst freue mich vor allem, Sie persönlich wiederzusehen. Wenn möglich, möchte ich sehr gern schon am 13. Nachmittags mit Ihnen hier draußen zusammen sein, ich möchte Sie dann bitten, daß wir || einen stillen Müggelsee-Spaziergang zusammen machten od. vielleicht noch etwas weiter wanderten. Ich stehe jedenfalls an allen Tagen vom 13. morgens an bis zum 16., an dem ich abreisen möchte, ganz zu Ihrer Verfügung. Vielleicht wäre auch sehr hübsch, wenn Sie (etwa am Sonnabendabend) mit einem Kreise engerer Freunde (besonders vom Bruno-Bund und der Freien Hochschule) || zusammen sein könnten, Wille wird Ihnen deshalb schreiben.

Mit den herzlichsten Grüßen

Ihr Wilhelm Bölsche

Brief Metadaten

ID
9652
Gattung
Brief ohne Umschlag
Entstehungsort
Entstehungsland aktuell
Deutschland
Entstehungsland zeitgenössisch
Deutsches Reich
Datierung
04.04.1905
Sprache
Deutsch
Umfang Seiten
11
Umfang Blätter
6
Format
13,3 x 17,3 cm
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 9652
Zitiervorlage
Bölsche, Wilhelm an Haeckel, Ernst; Friedrichshagen; 04.04.1905; https://haeckel-briefwechsel-projekt.uni-jena.de/de/document/b_9652