Bölsche, Wilhelm

Wilhelm Bölsche an Ernst Haeckel, Mittel-Schreiberhau, 22. August 1903

Mittel-Schreiberhau

„Haus Bölsche“

I. d. Siebenhäusern i. Riesengebirge

22.VIII.03.

Lieber Herr Professor!

Herzlichen Dank für Ihre freundlichen Zeilen. Möchte der Winter im schönen Süden Ihnen und Ihrer verehrten Frau Gemahlin (der ich mich herzlich zu empfehlen bitte) recht frohe Stunden bringen. Ich habe zum Herbst auch noch eine sehr hübsche Reise vor: ich gehe mit meiner Frau und den Kindern zu einem Fest im Hause der Schwiegereltern an den Rhein, und ich will die Gelegenheit benutzen, um von da einen Abstecher nach London zu machen, das ich noch nie besucht || habe. Ich freue mich außerordentlich auf die zoologischen und geologischen Sammlungen. Sollte es Ihre Zeit erlauben, mir für diese Reise noch einen Wink hinsichtlich irgend einer dort besonders sehenswerten Spezialsache oder eine dazu nötige Empfehlung geben zu können, so wäre ich Ihnen herzlich dankbar.

Auf die Neuauflage der Anthropogenie (die mir immer als Ihr besonders formal, im Kunstbau, bewundernswertestes Werk erschienen ist!) bin ich sehr gespannt. Ließe || es sich nicht einrichten, daß ich sie möglichst vor meiner Reise – am liebsten also jetzt gleich, wenn auch in einem Exemplar aus losen Bogen etwa – erhalten könnte, ich möchte so sehr gern vorher eingehend über sie schreiben, da ich sonst erst um oder nach Weihnachten wohl dazu kommen würde.

Wir haben einen sehr guten Sommer hier verlebt, haben unser altes Wrack von Bauernhaus als || ständige Sommerwohnung recht artig herausgeputzt und gleichzeitig einen großen Garten angelegt, der uns sehr viel Vergnügen macht. Zwischendurch bin ich fleißig in die Berge geklettert und habe eine Menge herrlicher Naturstimmungen genossen. Das Riesengebirge ist doch unerschöpflich reich in guten Naturbildern. Ich liebe besonders die öde, aber eigenartig || packende „Tundraartige" Landschaft der Moorwiesen an den Elbquellen, wo die nordische Molte-Beere blüht und die Nebelwolken tagelang gespenstisch immer dicht am Boden entlangkriechen.

Aus meinen Vorträgen über Entwickelung der organischen Welt vor dem Coburger jungen Herzog ist leider doch nichts geworden in Folge des rein äußerlichen Umstandes, daß er im Winter nicht, wie geplant war, studienhalber nach Berlin kam. Aber schon || der Wunsch von seiner Seite ist jedenfalls ein wertvolles Dokument für die sich langsam vollziehende „Aufhellung auch nach oben"! In Berlin selbst ist davon leider trotz aller Delitzsch-Liebe nicht viel zu bemerken! Der alte Mommsen, so wird mir grade von einem Freund erzählt, meint, unsere Enkel würden wohl noch alle wieder unter dem || Joch des Centrums sein. Das ist denn allerdings auch ein Stimmungs-Dokument!

Mit herzlichsten Grüßen und allen guten Wünschen

Ihr

Wilhelm Bölsche

Meine Frau läßt auch herzlichst grüßen. Anbei ein neues Bildchen der Kleinen.

 

Letter metadata

Verfasser
Empfänger
Datierung
22.08.1903
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 9638
ID
9638