Friedrichshagen b. Berlin, Ahorn Allee 22.
23.IX.99.
Lieber Herr Professor!
Eben erhalte ich Ihren Brief, der meine ganze Reiselust anregt. Aber für dieses Jahr liegt das Reisen im größern Stil bereits hinter mir. Ich habe prächtige Tage in Frankfurt verlebt, wo ich in äußerst stimmungsvoller Versammlung vor über 2000 Arbeitern über Goethe gesprochen habe, – eine hübsche Festkarte, die ich dort absandte, liegt in Jena. Dann bin ich durch‘s Berner Oberland gewandert, Thun, Interlaken, || Mürren, Wengernalp, Eigergletscher, Grindelwald, Meiringen, Brüning, Pilatus, – ganz einsam (Frau u. Kind sind in Cöln bei den Großeltern), aber äußerst genußreich und bei köstlichem Wetter.
Die „Welträtsel" sind inzwischen angekommen und ich gehe grade an die Lektüre. Ich soll bereits für die Wiener „Zeit" und für die „Deutsche Rundschau" darüber schreiben. Ueber die „Kunstformen" schreibe ich für die populär-naturwissenschaftliche Zeitschrift „Mutter Erde" (Spemanns Verlag). Sobald Sie zurück sind, komme ich auf 2-3 Tage || nach Jena. Ich habe bereits ein gut Teil der Biographie geschrieben. Da sie nur 15 Bogen umfassen soll und möglichst populär sein wird, werden ja den Hauptraum populäre Darlegungen über Ihre naturwissenschaftliche und philosophische Arbeit einnehmen und die menschlich-persönlichen Schicksale lassen sich nur diskret streifen, wie ich denke! Ich hoffe so sehr, daß Sie nach dieser Seite noch selbst das nötige Buch schreiben! Ich freue mich aber auf alle Fälle sehr, Jena mit Ihnen noch einmal kennen zu lernen. Ich kenne weder Jena, noch Weimar und hoffe auf schönste || Lebenseindrücke! Wie sehr ich Sie um Corsika beneide! Ich habe seine Bergspitzen schon einmal von fern gesehen, bin aber nicht hin gekommen. Die varietät corsicana der Cicindela campestris meiner Sammlung erinnert mich oft daran, – sie ist leider nicht von mir selbst gefangen! Doch das kommt wohl alles noch einmal. Wenn Arbeitskraft, Frieden zu Hause und sonst ein guter Stern mir wie in letzter Zeit treu bleiben, hoffe ich noch manches gute Stückchen Natur durchkosten zu können, – Naturgenuß ist doch die gesündeste und echteste aller Schlemmereien!
Mit allen guten Wünschen
Ihr W. Bölsche