Anonym

Anonym an Ernst Haeckel, o. O., [1904]

„Nur durch der Sinne Pforden tritt der Geist in’s Leben ein“ (Goethe)

So geistreich und gründlich die Welträtsel von Herrn Profs. Dr. Ernst Haeckel behandelt sind, um so mehr muß es auffallen, daß eine alte Irrlehre darin noch bekräftigt wird. Die Vererbung physischer Eigenheiten vom Älternpaar in erster Linie, von den Großälternpaaren in zweiter Linie, auf die Kinder ist eine natürliche, unbestrittene Tatsache; aber die Vererbung psychischer Eigenheiten ist vollständige Täuschung. – Was ferdige [!] Menschen können und wissen ist erworben und alles im Leben Erworbene ist durch Zeugung nicht übertragbar. Es vergeht mit dem Individuum. – Gesunde Ältern zeugen zuversichtlich gesunde Kinder mit gesunden Sinnen und Nerven. Ein normales Kindergehirn wiegt im ersten Lebensjahre circa 500 bis 600 Gramme, ob das Gehirn von Vater u. Mutter zusammen im Leben nur 2000 oder 3000 Gramm schwer geworden. Das mittlere Gewicht der Gehirnmasse eines erwachsenen Menschen schwankt zwischen 1000 u. 1200 Grammen, nur außerordentliche Gedankenarbeiter erlangen Hirngewichte von 1800 u. mehr Grammen. Von den Verhältnissen in denen das Kind aufwächst, hängt es ganz allein ab, was es später repräsentirt. (Welträtsel, Seite 56, Zeile 5 w. u.) „Die merkwürdigen Erscheinungen, welche die individuelle Psychogenie des Kindes gerade in den ersten Lebensjahren darbietet u. wel-||ches alle denkenden Ältern freudig bewundern, wurden niemals Gegenstand eingehender wissenschaftlicher Studien.“ Dieser Nachsatz ist leider wahr; das Vorhergehende erfordert aber eine Berichtigung. Das Aufleuchten der Kindesseele ist nur das Echo der Umgebung des Kindes oder ein Spiegelbild. Dieß ist der Schlüssel zur Erklärung der so ungleichen Entwickelung der Kinder. Ein vorurteilsfreier Beobachter wird das bestätigen und damit die große Wichtigkeit und die Verantwortlichkeit der Erzieher begründen. Erst der mündige, selbstständige Mensch ist für sein Tun u. Lassen haftbar. Würde Charakter, Tugend oder Laster angeboren, so wären alle unsre Strafgesetze unvernünftig; wären Talent u. Genie als Gnadengeschenke angeboren, sie wären gleichwerthig mit Thierinstinkt. Selbst Rasseverschiedenheit hat keinen Einfluß auf die Ausbildung der Menschen. Nicht durch Judenältern pflanzen sich Juden fort, sondern durch das fünfte Buch Moses; Katholiken, Protestanten, Muhammedaner werden nicht geboren, aber von den betreffenden Kirchen gründlich geschult. Alle erst im Leben erworbenen technischen Ferdigkeiten [!] und geistigen Capacitäten sind durch Geburt nicht übertragbar. Es sind keine Natur- sondern Kunstprodukte. Mit welchem Rechte spricht nun alle Welt von gebornen Dichtern, Künstlern, Helden und so weiter, als Specialitäten? – || Exempla sunt odiosa, alle Beispiele hinken; dennoch kann ein gutgewähltes Beispiel der Wahrheit den Weg glätten. Im Pflanzen- und Thierreiche ist die Natur wahrhaft verschwenderisch im Schaffen u. Erhalten niedriger Organismen, immer spaarsamer, je höher die Gebilde. Unkraut gedeiht besser, wie Waizen, Kaninchen vermehren sich schneller, als Pferde u. so weiter. In Bezug auf Vererbung ist Folgendes der Beachtung werth. Im Allgemeinen keimt befruchteter Same in der Erde und bringt endlich Blätter, Blüthen u. Früchte gleich der Mutterpflanze. Die Natur veredelt in günstigen Klimaten während großer Zeiträume gewiße Blumen u. Früchte; wird der Saamenkern einer so veredelten Frucht der Erde zum Keimen übergeben, so wächst er wohl zur Mutterpflanze aus, bringt aber keine verwandelten Früchte, sondern verwilderte hervor. Die Menschen haben gelernt, durch Übertragen von Edeltrieben in den wieder wild gewachsenen Stamm, veredelte Früchte zu erziehen und sogar auf demselben Stamm verschiedene Sorten der gleichen Gattung; also auf Birnbäume keine Pflaumen, auf Pflaumenbäume keine Kirschen, sondern nur Stammverwandes [!]. So kann man auch nicht Pferde u. Rindvieh oder Ziegen mit Hunden kreuzen, das ist gegen die Natur. Etwas Ähnliches gewahrt man auch im Menschengeschlechte. || Im Mutterleibe, von der Außenwelt ganz abgeschlossen, entwikkelt sich aus dem befruchteten Ei das Kind und tritt in die Welt, eine physische Doudez Ausgabe von Vater u. Mutter, ausgestattet mit Allem, was dazu gehört unter geeigneter Pflege, nach einer Reihe von Jahren, in der übrigen Menschheit eine Stellung einzunehmen, die absolut nicht von der Zeugung, sondern von der Erziehung, dem ganzen Bildungsgange und abertausenden ihn begleitenden Umständen abhängt. Der Mensch ist aber mehr als ein Birnbaum, welcher durch Kunst verschieden edle Birnensorten, aber keine Pflaumen tragen kann; der Mensch lernt durch Kunst unzählige Sorten Früchte tragen, je nachdem sie ihm eingeimpft werden. In Summa: der Mensch ist, vermöge seines Körperbaues, seines Denkherdes, seiner Sprache ein geborenes Universal-Genie. Da aber das Leben kurz ist, Kunst und Wissenschaft aber viel Zeit erfordern, äußere Umstände meistens mehr hemmend als fördernd wirken, so liegt es auf der Hand, daß die Mehrzahl der Menschen keine hohe Bildungsstufe erreichen können, aber auch ohne dieses ein nützliches Glied des Ganzen bildend, ein zufriedenes Dasein führen könnten, wären alle Menschen brav und von dem Ideealgrundgesetze [!] erfüllt: Was Du von Andern wünschest, daß sie Dir tun sollen, das tue Du Ihnen! Nicht Reichthum, nicht Ruhm, Zufriedenheit ist Glück! – || Mögen Jahrmillionen vergangen sein Affen zu Menschen zu veredeln und hunderttausende um aus Troglodyten Culturmenschen zu machen, in den paar tausend Jahren, soweit zurück die verbürgte Geschichte reicht, zeigen Pflanzen, Thiere und Menschen keinen auffallenden Unterschied von damals bis heute; Rassenverschiedenheiten ausgenommen. Noahs ausgeschickte Taube kehrte mit dem Oelzweige zurück; Schaafe, Ziegen, Kühe gaben Milch und Fleisch; der Biene ihre sechseckige Zelle von Wachs barg Honig sonst, wie noch jetzt; Krieg führten die Völker aus ähnlichen Gründen und mit denselben Unmenschlichkeiten wie noch gegenwärdig [!] und über die Reize und Holdseligkeiten der Frauen als Anziehungspunkt für die Männer, berichtet das Hohe Lied Salomonis u. griechische u. lateinische Dichter u. Künstler. Alle, in den 5000 Jahren einzeln aufgetauchten Geistesgrößen haben keine Spur von geistiger Vererbung hinterlassen, keine Homerschen, Aristoteleschen u. so weiter, aber ihre Werke dauern fort. Homer ist heute noch der Neugriechen Stolz; die Philosophieen des Aristoteles wucherten 2000 Jahre; Virgil, Horaz wurden fort u. fort bewundert; Schakespeare, Schiller, Goethe werden immer Sterne erster Größe bleiben, aber keiner dieser Genies wird je in seiner Eigenart sich wiederholen, weil Zeit u. Umstände in denen sie erwuchsen, niemals ähnlich wiederkehren werden.

 

Letter metadata

Verfasser
Empfänger
Datierung
??.??.1904
Entstehungsort
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
A 9530
ID
9530