Dessauerin [Pseudonym] an Ernst Haeckel, Dessau, 15. Februar 1919
Hochverehrter Herr Professor!
Zu Ihrem Geburtstage gestatte ich mir, Ihnen meine herzlichsten Wünsche darzubringen. Möge Ihr gesundheitliches Befinden ein erträgliches sein und Sie noch eine Zeit lang bei uns bleiben! Durch die Zeitungen erfährt man jetzt ja leider garnichts mehr über Ihren Gesundheitszustand; doch steht zu befürchten, daß die erschütternden Ereignisse der letzten Monate Sie besonders ergriffen haben werden. Blutet doch unser armes Vaterland aus tausend Wunden, ist ein Frieden mit solch schmachvollen Bedingungen in Sicht, wie sie noch keinem Volke auferlegt wurden, und wütet im Innern ein Feind, der alles in den Boden treten und Gesetze aufstellen will, die gegen die Natur sind. Und || dennoch wollen wir die Hoffnung nicht ganz aufgeben, daß das Gute, Edle und Strebsame in der deutschen Nation wiederauflebt und sich mit der Zeit emporarbeitet, sodaß wir einst wieder als Volk dastehen, das man nicht zu verachten braucht, wie man es jetzt leider tuen muß, wo die niedrigsten Elemente auf Blutvergießen, Zerstörung und Plünderung sinnen, und die Jugend nicht genug Tanzvergnügen und Maskeraden auf dem drohenden Abgrund veranstalten kann. Wie viele sind doch höchst unwürdig, in so jugendlichem Alter schon vor die Wahlurne zu treten, mit dem gleichen Recht eines älteren erfahrenen Mannes! Ich selbst habe nie den Trieb zu politischer Betätigung in mir gefühlt, aber jetzt ist es ja vaterländische Pflicht! Ich habe mich für die Deutsche Demokratische Partei entschieden. Wenn doch erst wieder ruhige, friedliche Zeiten kommen wollten, denn nur im Frieden kann das Gute und Schöne gedeihen und zum Segen der Menschheit werden! Vor dem Krieg hat man einen wahren Abscheu, der hoffentlich bei allen Völkern fernere Kriege nicht zum Ausbruch kommen läßt! – || Jetzt mußte ich verschiedene theosophische Schriften vorlesen. Wie froh bin ich, daß diese Erzeugnisse krankhaft erregter Nerven mich nicht beunruhigen und verwirren können, und das danke ich Ihnen! Auch, daß mein Leben, trotzdem es mir nicht vergönnt ist, an der Seite eines geliebten Mannes (weil er eine andere geliebt und geheiratet hat) zu wirken, kein verbittertes geworden ist, weil ich das Leben auch so noch lebenswert finden muß, ich großes Interesse und Liebe für die herrliche Natur, die Musik u.s.w. habe, muß ich Ihnen danken, die Sie mir mit Ihrer Lebensauffassung so viel gaben! (Hoffentlich bleiben meine guten Eltern, die ihres leidenden Zustands wegen meiner Pflege bedürfen, noch so lange wie möglich bei mir!) Ihre herrlichen „Kunstformen der Natur“, die ich auch besitze, erfreuen mich oft. Wie ich Ihnen früher schon einmal geschrieben habe, hat mich die christliche Glaubenswelt nicht dauernd befriedigen können, da die verschiedensten Zweifel stets an mir nagten. Die theosophischen Anschauungen, unter deren Einfluß einige meiner Bekannten || leben, lernte ich glücklicherweise erst kennen, als sie keine Verwirrung mehr anrichten konnten, und nur Ihre monistische Weltanschauung schenkte mir Ruhe, Klarheit und Lebensfreudigkeit. Doch dies alles habe ich Ihnen, wie gesagt, schon früher geschrieben. Aber daß ichs nun doch noch einmal tue und Ihnen nochmals herzlich danken durfte (was ich bei Ihrem schwankenden Gesundheitszustand nicht mehr zu hoffen gewagt hatte), freut mich sehr, hochverehrter Meister! Und nun verzeihen Sie bitte, daß ich Ihre kostbare Zeit noch einmal in Anspruch genommen habe! Ich habe für Sie nur den einen Wunsch, daß Sie von Beschwerden und Schmerzen möglichst verschont bleiben und vom deutschen Volk nicht nur in Verachtung denken müssen, sondern noch irgend etwas wie eine kleine Freude und Zukunftshoffnung an ihm erleben können!
Hochachtungsvoll
mit ergebenem Gruß
Eine Ihnen dankbare Dessauerin.
Dessau,
d. 15. II. 1919. ||
Inliegendes Pfauenauge erlaube ich mir beizufügen als Gruß aus dem sich in der Nähe Dessaus befindlichen Wörlitzer Park, den der edle Herzog, „Vater Franz“ genannt, geschaffen hat u. wo seitdem immer Pfauen in der Nähe des Schlosses einherstolzieren.a
a Text weiter auf S. 1: Inliegendes Pfauenauge … Schlosses einherstolzieren.