Anonym

Anonym an Ernst Haeckel, Gossau, 18. Januar 1907

Gossau, den 18./1. 1907.

Hochverehrter Herr Professor!

Die Veranlassung zu diesen Zeilen gab mir Ihr grossartiges Buch „Die Welträtsel“, welches ich zusammen mit Carneri’s „Der moderne Mensch“, für die moderne Bibel halte. Wie neugeboren fühlt man sich nachdem man die beiden Bücher gründlich und mit Verständnis durchstudirt hat; freilich muss man dabei nicht wenig vorbereitet sein, um alles voll und ganz zu erfassen. –

In Chile, Süd-Amerika, bin ich geboren, wohin meine Eltern ausgewandert waren, diesselben mich als junger Mensch von 17. Jahren hinaus in die weite Welt geschickt haben um die Seifenindustrie zu erlernen, wofür ich ihnen unendlich dankbar bin. Ich kam nach Berlin u. noch andere Städte Deutschlands, dann nach Brüssel u. jetzt in die Schweiz. Hier wohne ich bei einer angesehenen Familie, welche sich der Römisch-katholischen Kirche || bekennen und sehr fromm sind, mit andern Worten alle Ceremonien u. Geschichten (wie das Kreuz machen mit Weihwasser u. vor dem Essen besonders ana Sonn- u. Festtagen dreimal hintereinander einen unendlich langen Sims dahersagen, sodass es mir vorkam, als erhielte derjenige der zuerst damit fertig würde einen Preis u. dann das ewige Kirchlaufen in der freien Zeit – ) aufs peinlichste ausführen wie es die Kirche eben vorschreibt. Dieses veranlasste mich ernstlicher wie ich es bis jetzt gethan hatte über Religion u. Leben etc. nachzudenken und habe mir unzählige Fragen vorgelegt, welche ich natürlich b zum grössten Teil nicht beantworten konnte. Da ich jede Woche ein paar Mal nach St. Gallen fuhr um Tanzunterricht zu nehmen traf es sich, dass ich, wie ich durch die Strassen schlenderte vor einer grossen Buchhandlung stehen bleibend, auf Carneri’s „der moderne Mensch“, (Versuche über Lebensführung) aufmerksam wurde. In meinem Innern hatte ich schon wieder teils mit Erfolg, teils vergebens, etwas studirt über Lebensfragen; ich zögerte keinen Augenblick u. schaffte mir das Buch an u. ebenso geschah es das nächste Mal mit Ihrem schönen Buch, nur mit dem Unterschiede, weil ich Zeit hatte, stieg ich unbewusst, am berühmten Kloster, welches St. Gallen einst gegründet hatte, vorbeigehend, || den Freudenberg hinan. Schon in der Mitte hielt ich an u. gewann einen wundervollen Blick auf das schöne St. Gallen, dessen Häuser bedekt mit Schnee in dem feuerrotem Glanze der Abendsonne glizerten. Oben angelangt breitete sich vor mir eine grossartige Schneelandschaft aus mit hohen Bergen, dann gewahrte ich links von mir die gewaltigen Bergmassen vom Saentis, während ich rechts von mir den Bodensee deutlich erkennen konnte; dabei empfand ich eine übermenschliche Freude, noch dazu mit dem Bewusstsein ein Teil von diesem schönen Ganzen sein zu dürfen u. gerade der schönste, vollkommenste und in den Händen hielt ich aufgeschlagen Ihr Buch über „Die Welträthsel“, welchem ich ja dies volle Bewusstsein zu verdanken hatte, wenngleich ich auch früher an den Schönheiten der Natur mich gefreut hatte, doch nie so in diesem Maasse wie jetzt. Oben auf dem Berge stand ein freundliches Wirtshaus, daran stand geschrieben „Freudenberg“, ja sagte ich zu mir dieser Berg hat den Namen voll u. ganz verdient.

Das Schlimmste eben was die Religion den meisten Menschen, die sich in ihre Arme werfen, antut, ist, dass sie denselben voll und ganz das Bewusstsein raubt schon tatsächlich || in dem vermeintlichen „Jenseits“ oder „Paradies“ zu sein, u. ich mich nicht wundre wenn die Leute direkt aus der Kirche kommen meistens schlechter Laune sind oder zu Hause und wenn es Ruhetag istc Schimpfreden losslassen. Sehr treffend ist daher das Bibelwort für diese fanatischen Gläubigen: „Sie haben Augen und sehen nicht“, „sie haben Ohren und hören nicht“.

Die Wahre-Erkenntniss, welche ich für immer Besitze und überglücklich darüber bin, habe ich nun Ihrer gewaltigen Gedankenarbeit von einem halben Jahrhundert zu verdanken, zu welcher ich nie gekommen wäre, trotz meines grossen Triebes nach wahrer Natur-Erkenntnis, denn dazu gehört erstens ein gewaltiges Wissen u. nicht minder Verstand von den grossen Werken der Naturforscher feste Schlüsse zu ziehen u. durch eigene Entdeckung u. Erfahrung zu ergänzen. Ihr schönstes Verdienst ist daher, wofür Ihnen die Menschheit dankbar sein wird, die gewaltigen Fortschritte der Naturforschung zusammengefasst u. ergänzt zu haben in dem Buch „die Welträtsel“, u. so es auch dem Mindergebildeten zu Teil werden liessen. Entschuldigen Sie mir meine Unbeholfenheit in diesen Zeilen u. nehmen Sie meinen aufrichtigen, innigsten Dank hin für das Höste was Sie mir geschenkt haben:

„Die wahre Natur-Erkenntnis.“

a eingef.: an; b gestr.: (nicht); c eingef.: ist

 

Briefdaten

Verfasser
Empfänger
Datierung
18.01.1907
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
A 9463
ID
9463