Anonym an Ernst Haeckel, o. O., April 1905
Geehrter Herr Professor!
Wie die Zeitungen berichten, wollen Sie am nächsten Freitage in Berlin einen Vortrag halten, dessen Spitze gegen das Christentum gerichtet ist. An jubeldem, tosendem Beifall wird es Ihnen dabei nicht fehlen. Denn wie vor nun bald 1900 Jahren die Juden vor Pilatus – die gegenwärtige Passionszeit erinnert ja lebhaft daran – || bei der Wahl „Jesus oder Barnabbas“ ihr wildes „Kreuzige, kreuzige!“ anstimmten, so stimmen ja zu allen Zeiten Juden und Judengenossen allen denen zu, die dazu willig und bereit sind, den Christenglauben zu untergraben und dem König in der Dornenkrone seine Ehre zu nehmen. Aber es dünkt mich ein trauriges Geschäft zu sein, solche Handlangerdienste und zumal jetzt in der allen Christen heiligen Passionszeit, acht Tage || vor dem Karfreitage zu leisten! Daum möchte ich Sie bitten, doch vorher noch einmal eine stille Stunde zu benutzen, um ruhig und andächtig die schlichten Berichte der Evangelien über Jesu Leiden und Sterben zu lesen und sich dabei die Frage vorzulegen, warum wohl der vor 10 Jahren verstorbene Professor Erdmann auf seinen Grabstein hat schreiben lassen:
Κύριε ελέισον!