Ritter, Paul von

Paul von Ritter an Ernst Haeckel, Basel, 7. Juni 1889

Basel

Schaertlingasse 8

7n Juni 98 [!]

Hochgeehrter Herr Professor,

Gestatten Sie Ihnen und Ihrer lieben Frau für die liebenswürdigen Zeilen v. 31n Mai 89 sowie für den herrlichen Artikel im „il diritto“ v. 12n Apr. 89 N, 102 meinen schönsten und verbindlichsten Dank hiermit auszudrücken. –

Die Übersendung des Elbaweines bezweckte Ihre glückliche Heimkehr zu feiern|| und in Allen, welche Sie für Ihre wissenschaftlichen Verdienste lieben und achten, Gefühle des Dankes und der Verehrung zu entzünden. Ihre Reise nach Rom und Ihr Aufenthalt bei S. H. dem Herzoge v. S. M. sind wohl verdiente Ovationen wie sie einem „principe fra i biologi“ selbstverständlich zukommen müssen. – Die Geister fangen an sich unter dem belebenden und erwärmenden Strahl der|| Entwickelungstheorie zu regen und im Vorgefühl einer besseren Zukunft Gott und die Natur besser zu verstehen. – Wie ganz anders sah es 1794 in Jena aus, wo Goethe bei Gelegenheit eines Gesprächs über die „Urpflanze“ dem Schiller, welcher an den Mechanismus der Natur nicht glauben wollte grollend folgende Worte zurief:

„Das kann mir sehr lieb sein, daß ich Sinne habe, ohne es zu wissen und sie sogar mit Augen sehe.“|| Liegt nicht in dieser aufregenden Scene der Keim zum Streite zwischen Glauben und Wissen, welcher bis auf unsere Tage fortdauert und die glänzende Laufbahn manchen Sternes wissenschaftlicher Größe auf unheimliche Weise entstellte? Daher die jüngst a in Jena zu Ehren Schillers abgehaltene Säkularfeier den Ruhm des Verfassers „über Anmuth und Würde“ eher verkleinert wie vergrößert. – Aber wir Menschen sind ja abergläubisch und pflegen gewöhnlich das zu lieben, was wir erhoffen und b hassen das, was wir fürchten. – Diese cungeheuren Nebel zu zerstreuen und uns auf dem Wege zur Schönheit das Licht der Wahrheit zu zeigen, – ist die Entwickelungslehre d berufen und unter allen wissenschaftlichen Disciplinen in erster Reihe die Naturwissenschaft als lebendiger Spiegel von Gott und Natur. – Ich warte mit Ungeduld die neueste Ausgabe Ihres morphologischen Werkes (allg. Morphologie) und Nachricht über die Expedition Ihres Docenten nach dem Nordcap. – Mit einem herzlichen Grusse|| an ihre liebe Frau und Kinder, – richte ich solche auch an Sie und verbleibe unter vorzüglichster Hochachtung. –

Ihr ergebener Paul Ritter

Auf ein Wiedersehen mit Ihnen und Ihrer lieben Familie freue ich mich sehr.e

a gestr.: abgehaltene b gestr.: fürch c eingef.: ungeheuren d gestr.: unter e Schlußworte ("an Ihre […] mich sehr.") vertikal auf S. 1 nachgetragen.

 

Letter metadata

Verfasser
Empfänger
Datierung
07.06.1889
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 9367
ID
9367