Paul von Ritter an Ernst Haeckel, Biarritz, 5. Januar 1893
Biarritz
Basses Surinées
France
Hôtel d’Angleterre
5n Januar 93
Hochgeehrter Herr Professor,
Ihre geehrten Zuschriften v. 3n und 29n December 92 mit den sie begleitenden vier Drucksachebn konnten mir erst gestern, am 4n Januar 93, mit der von Basel nmir nachgeschickten Correspondenz hier behändigt werden, weshalb ich wegen der versäumten Entsendung meines heutigen Antwortschreibens um gütige Entschuldigung bitte. –
Ihre und Ihrer lieben Frau herzliche Glückwünsche| zum vollzogenen Jahreswechsel aufrichtig erwidernd, wünsche ich Ihnen und Ihrer lieben Frau aus dem Schoße der dunklen Zukunft ein glückliches und gesundes Jahr 1893. – Möge ein gütiges Geschick Sie und die Ihrigen in der glücklichen Verfassung erhalten, wo das Gleichgewicht des Lebens durch keine unerwarteten Zwischenfälle getrübt werde. – Deshalb behalte ich für mich die melancholische Thräne des Heraclits und entsende Ihnen mit frohem Muthe die olympische Heiterkeit Demokrits als Neujahrsgeschenk. – Hoch erfreut über das neue geistige Product Ihres glänzenden Universalgenies habe ich bei einem flüchtigen Einblick in Ihre Broschüre „Der Monismus als Band zwischen Religion und Wissenschaft“ die harmonischen Klänge meiner Seele wiedergefunden. – Aber unsere Religion ist ein von dummen Menschen gemachtes Dogma, während die Naturwissenschaften die Naturgesetze einer| weisen Weltordnung zur Aufgabe ihres Zieles haben so, daß die versöhnende Vermittelung der Entwickelungslehre eine unerreichbare Tantalusarbeit wäre. –
Eine jede Gottesverehrung ist in erster Linie an den Geist der Materie gebunden, welche wir vom Schicksal erhalten haben. – Je größer die Sorgfalt ist, welche wir auf die Pflege und Erhaltung unserer Materie verwenden, desto näher treten wir zu den Naturgesetzen und desto reiner fühlen wir in uns die Lebenskraft der Zellen, aus welchen unsere Materie zusammengesetzt ist. – Die Alten des klassischen Alterthums verfluchten die Christen als Gotteslästerer, (vide Plinius) der vernachlässigten Materie und straften sieselben mit dem Feuer des Himmels. Wie ganz anders sieht es in unserer heutigen Welt aus, wo an jeder Staßenecke das Schild eines Zahnkünstlers zu lesen ist. – Ich verbringe den Winter in Biarritz und bin mit dem trockenen, wenn auch| kalten Winter zufrieden. – Sollte Sie Ihr Weg nach Messina über Biarritz führen, so werde ich mich sehr freuen, Ihnen als meinem Gast die Honneurs machen zu dürfen. Paris entsendet Montags, Mittwochs und Sonntags Expresszüge nach Biarritz. Die Pyrenäen mit ihren kleinen Eseln, Pferden und Bären sowie mit ihrer eigenthümlichen Bevölkerung sind ein sehenswerthes Stück Land auf Gottes Erdboden. –
Von H. Profess. Semon habe ich einen Brief erhalten und sollte derselbe noch Subsidien brauchen, so bitte mir darüber unumwunden zu schreiben. – In Sicilien werden Sie den interessanten Wurm finden, welcher auf den Segmentringen des bilateralen ventrelen Nervensystems rothe Augenpigmente führt (polyophthalmus) und nur in Sicilien zu finden ist. – Wäre es Ihnen und dem H. Curator nicht möglich H. Dr. Verworn eine bessere Existenz in Jena zu stiften? – Er ist talentvoll und strebsam und es wäre schade sobald Jena ihn verlöre. – Nach Ankunft des Professors| Semon muß der Ritter-Professor in den [?] geschickt werden, um die placentalen Amphibien im Osten zu studiren. – Mit dem Wunsche, daß es Ihnen wohl gehe und daß Sie mich nicht ganz vergessen, sende ich Ihnen meine besten Grüsse und zeichne hochachtungsvoll
v. Ritter
Fräulein Kucera dankt für Ihre Wünsche, welche sie auf’s Beste erwidert.
H: EHA Jena, A 9330, egh., 1 Dbl., 13,6 x 20,8 cm, 4 S., Besitzstempel.