Paul von Ritter an Ernst Haeckel, Frankfurt am Main, 1. Mai 1892

Frankfurt/Main

„Hôtel Drexel“

1r Mai 1892

Bis zum 15n Mai 1892

bleibt dieselbe Adresse.

Hochgeehrter Herr Professor,

Sobald ich, in gewohnter Weise, zu Stahl und Eisen greife, so ist die Feder, welche diese Zeilen schreibt, nicht mit feindlichen, sondern mita ultra-friedlichen Gesinnungen erfüllt, um in erster Linie zu erfahren wie es Ihnen geht und dann um Ihnen mitzutheilen was ich in der Fremde gesehen und die Welt, welche ich in mich aufgenommen habe, mit Ihnen zu theilen. – Nach meiner Rückkehr in das aschgraue Heim der Stadt Basel werde ich mich sofort an das Studium Ihrer Anthropogenie machen, über welche ich in der mir gütigst übersandten Broschüre eine herrliche und wahrheitsgetreue Kritik gelesen habe. – Für heute erlaube ich mir Ihnen, wie oben vermeldet, diverse Notizen unter Kreuzband zuzuschicken, || welche auf dem wogenden Markte des Lebens b nach Wesen und Form mirc in der Fremde auffielen. –

1. Couvert mit der Aufschrift „Charivari“, wo Sie neben der Beschreibung der allerliebsten, naiven fünfzehnmonatlichen Orang-outangs des Jardin des Plantes zu Paris, das academische Programm der Albert-Ludwigs-Universität zu Freiburg i/Breisgau finden werden, in welchem die Anthropogenie oder Keimesgeschichte des Menschen unter dem uncorrecten Titel einer Entwickelungsgeschichte des Menschen angeführt ist. – Ferner ein Programm des neuen Circus in Paris, wo die sympathische Gestalt einer englischen Blondine, zum Erstaunen des entsetzten Publicums, diverse Krokodille hypnotisirt, indem sie über die Köpfe dieser Reptilien mit bewundernswerther Geschicklichkeit weiße wollene Decken wirft, wodurch diese Ungethüme so zahm werden, daß man sie fassen und mit der Hand in die bereitstehenden Körbe werfen kann. – Schon Apulejus v Madaura erwähnt in seinen Schriften von gelehrten Elephanten, welche sich auf einem Seile produzirten und von abgerichteten Löwen und gelehrten Pferden und Eseln. – Die Bewohner von Tentrithisd in Oberegypten sollen im Alterthum sogar mit den Nilkrokodillen wie mit Schoßhündchen im Bade gespielt haben. – ||

2. Drei Probelieferungen der „Histoire Naturelle populaire“, welche im Verlag von Flammarion in Paris erschienen sinde und nur 50 Centimes per Nummer kosten. – Ein unschuldiger Zeitungsscherz betitelt mit der anziehenden Aufschrift „langage des Linges“. – Zwei Photographien der berühmten Galiläischen Alme Maria von Magdalena, deren Lebensgeschichte von dem Abte zu Fulda Reben-Maur im IX. Jahrhundert zum ersten Male das Licht der Welt erblickte und deren denkwürdige Notizen von dem XV. Jahrhunderte an bis auf unsere Tage die bildenden Künste mit Geschicklichkeit zu verwerthen wußten. –

3. Zwölf diverse französische illustrierte Zeitungen, welche verbrecherische Handlungen der Tagesgeschichte darstellen und den deutlichsten Beweis liefern, daß die Industrie und die technischen Wissenschaften in ihrer Einwirkung auf die ethische Erziehung des Menschen die ausübende Kraft und Autorität der Regierungen, der Kirche und Schule gelähmt und in den erzielten Resultaten weit hinter sich gelassen haben. – In Paris habe ich folgende sehenswerthe Sammlungen besucht: a. Das naturhistorische Museum des Jardin des Plantes, in dessen || schönen, weiten und hellen Räumen über 100.000 ausgestopfter Thieree, zur Schande des mosaischen Schöpfungsberichtes, durch ihre kolossale Massenhaftigkeit und musterhafte Aufstellung ein imposantes Schauspiel bieten. Im Schiffe des Gebäudes befinden sich die placentalen Säugethiere und unter diesen fünf vollständige Walfischskelete (1. Balaena mysticetus 2. Balaena Sieboldii) im Jahre 1889 in Biarritz ans Ufer verschlagen. 1. Physetes macrocephalus (Cachalot im Jahre 1879 in der Umgegend v. Biarritz in noch lebendigem Zustande ans Ufer geworfen) und 1 Megaptera boops). Ein großer Schrank mit Monotremen. Daneben eine reiche Collection von Marsupialen. Wahrscheinlich ist auch derg Ceratodus miolepis (Günther) unter der reichen Sammlung der Amphibien, Fischen und Reptilien vorhanden. Vortrefflich ist die reichhaltige ornithologische Sammlung geordnet, unter welcher ich die im Jahre 1889 nach Bayonne vom Caspischen Meere zugeflogenen wilden Tauben (Syrrhaptes paradoxus) und den von der Insel Acunha zugeflogen Albatros chlororhynchus bemerkte. –

b. Das kunst- und culturhistorische Museum von Emil Guimet auf der Place de Jéna mit den diversen respectiven Darstellungen des Buddha, Brahma, Leo-Tsen, Confucius und Sinto. – Dann eine sehr beachtenswerthe reiche ceramische Sammlung chinesischer und japanischer Kunsttöpferei. – 3 große Oelgemälde darstellend: die Thürme des Schweigens der feueranbetenden Parsi bei Bombay, den heiligen Baum und den heiligen Zahn des Buddha in Kandy bei Colombo auf der Insel Ceylon. –

c. Die im Trocadero befindliche sehr anziehende ethnographische Sammlung mit lebensgroßen Nationalfiguren. –

d. Die daselbst befindliche Collection der christlichen Kirchenornamentik mit herrlichen Christusköpfen aus dem XII u. XIII Jahrhundert nach den im VI. Jahrh.h auf dem i 6 Kircheconcile zu Constantinopel vorliegenden Beschreibungen der menschlichen oder beßer fleischlichen Erscheinung des Nazareners nach j Johannes von Damascus und angeblich auchk nach dem römischen Praefecten Lentulus.

e. Das praehistorische Museum zu St. Germain mit den Ausgrabungen in St. Acheul vide pag. 4 des additionellen Blattes. || bestehend aus schönen Gegenständen aus der unbearbeiteten und bearbeiteten oder polirten Periode der Steinzeit, aus menschlichen Schädeln, welche an den im Neanderthale gefundenen Schädel mit hervorvorspringenden Augenbeinknochen erinnern, aus diversen Knochen von Thieren, welche die Erde vor und nachl der Eisperiode belebten und aus Grabdenkmälern, welche vom bewohnten nordöstlichen Asien ausgehendm sich über Russland, die Scandinavische Halbinsel, Dänemark, Frankreich, Spanien und Nord Afrika erstreckten und in den ausgeführten Dolmen in Carnac und den Menhir in Lokmanix in der Bretagnen sowie in den Necropolen der numidischen und mauretanischen Fürsten in Nordafrikao ihre höchste Spitze und Vollendung erreichten.| Darauf Gegenstände von höchstem Interesse aus der Bronze- und Eisenperiode.p ||

Schließlich erlaube ich mir Ihnen eine baskische Nationalmütze zuzuschicken, welche, da für den Kopf eines freien Basken, welcher seine eigenthümliche Sprache und Gewohnheiten durch den zertrümmernden Wahn der Vergangenheit rein und unvermischt bis auf unsere Tage erhalten hat, auch den verehrungswürdigen, freien Scheitel eines berühmten, unabhängigen deutschen Gelehrten schmücken dürfte. –

In der Voraussetzung daß Sie || mein Geschreibsel und meine Sendungen mit Ihrem gewohnten, liebenswürdigen Wohlwollen entgegennehmen und mit der Bitte mich Ihrer lieben Frau und allen lieben Jenensern empfehlen zu wollen, verbleibe ich mit herzlichen Grüssen, – hochachtungsvoll. –

Ihr Ihnen Ergebener, –

Paul Ritter

NB. Schicken Sie mir gelegentlich Ihre werthe Photographie, damit ich sie an Hn. Flammarion, zur Veröffentlichung in seiner „Historie Naturelle populaire“ zuschicken könne. –|

In der Ihnen zugeschickten französischen Illustration habe ich in dem letzten Gange das „Menu“ vergessen die daselbst im Gil Blasq dargestellte Weltanschauung der Kinder der II Hälfte des XIX Jahrhunderts anzuführen, welche, wie man heutzutage sich zugeflüstertr, das Magnet der Übel aller Übel sein sollen. Dixi et Scripsi!|

Per Post ein Paket mit Drucksachen u. der baskischen Mütze. –

a eingef.: mit; b gestr.: mir c eingef.: mir; d verballhornt für: Tentyra (Dendera) e gestr. ist, eingef.: sind; f eingef.: Thiere; g gestr. noch, eingef.: auch der; h eingef.: im VI. Jahrh.; i gestr.: 5; j gestr.: dem k eingef.: angeblich auch; l eingef.: und nach; m eingef.: ausgehend; n eingef.: in der Bretagne; o eingef.: in Nordafrika; p ergänzender Text („bestehend […] Eisenperiode. –“) per Einfügungszeichen auf S. 5 nachgetragen; q eingef.: im Gil Blas; r eingef.: wie man heutzutage sich zuflüstert

Brief Metadaten

ID
9320
Gattung
Brief ohne Umschlag
Entstehungsort
Entstehungsland aktuell
Deutschland
Entstehungsland zeitgenössisch
Deutsches Reich
Datierung
01.05.1892
Sprache
Deutsch
Umfang Seiten
8
Umfang Blätter
4
Format
20,7 x 26,8 bzw. 13,4 x 20,9 cm
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 9320
Zitiervorlage
Ritter, Paul von an Haeckel, Ernst; Frankfurt am Main; 01.05.1892; https://haeckel-briefwechsel-projekt.uni-jena.de/de/document/b_9320