Paul von Ritter an Ernst Haeckel, Biarritz, 19. Dezember 1891

Biarritz

Basses Pyrènées

France

Grand Hôtel

19 December 1891

Hochgeehrter Herr Professor,

In Bestätigung meines Briefes v. 14n November 1891 und in der Voraussetzung, daß es Ihnen und Ihrer lieben Familie wohl gehe, – greife ich zur Feder, um Ihnen zu dem bevorstehenden Weihnachtsfeste und zu dem in Aussicht stehenden Jahreswechsel meine || aufrichtigsten und herzlichsten Glückwünsche darzubringen. Das gütige Geschick möge Sie noch lange für die Wissenschaft und die gebildete Welt erhalten und Ihnen im reichlichen Maße Glück Gesundheit und Zufriedenheit verleihen. –

Ich feiere mit Fräulein Kucera das diesjährige Weihnachtsfest in Biarritz, wo ich mein Winterquartier aufgeschlagen habe. – Eine nicht geringe Anzahl englischer Familien, unter welchen ich die des ehemaligen englischen Premier Mr. Gladstone hervorheben muß, theilt mit uns dasselbe Schicksal und wir Alle haben Ursache mit unserem Aufenthalt in Biarritz zufrieden zu sein. – Biarritz mit ca. 4/m Einwohnern liegt am Fuße der westlichen Ausläufer der Pyrenéen u. wird gleichzeitig von den trüben, aber wildschäumenden || Wogen des atlantischen Oceans bespült, dessen unabsehbare Wasseroberfläche das Klima von Biarritz mit wunderbarem Heilerfolge regelt. – Seine mit Mineralsalzen durchschwängerten Westwinde führen die für Lunge und Haut heilsamen Arzneimittel in ihrem Gefolge und wirken insbesondere auf das erschlaffte Pfortadersystem, indem sie die venösen Blutgefäße desselben zu neuem Leben anregen und bethätigen. – Sobald es wahr ist, daß das Leben aller Organismen in nichts Anderem besteht als in einem Fäulnissprozess der Gewebe und ihrer Recomposition durch den Ernährungsprozess, – so ist der Winteraufenthalt in Biarritz von unschätzbarem Werthe u. sein Ruf als klimatischer Kurort auch für die Zukunft gesichert. – Seine malerisch zerklüfteten Meeresufer mit seiner wild tosenden Brandung, || seine stillen und einförmigen Heiden mit den darauf malerisch weidenden kleinen Eseln und Pferden (0,70 m Höhe) bieten dem Maler sowie paläontologische Funde am Fuße der Pyrenäen viele interessante und werthvolle Anknüpfungspunkte für den Naturforscher dar. – In seiner romantischen Umgebung wäre die im gothischen Stile erbaute Rathsdiele von Bayonne mit ihren herrlichen Glasfenstern aus dem XIV. Jahrhunderte zu erwähnen und in dem 20 Kilom. entfernten Saint Jean de Luz das ehemalige Palais Ludwigs XIV. zu verzeichnen, wo er 1660 a mit der Infantin Marie Therese, Tochter Philipps IV. Königs von Spanien seinen Honigmonat feierte, zu dessen Andenken das Kirchenportal der Kirche, wo sie getraut wurden, vermauert wurde. – Einige Schritte von St. Jean de Luz liegt das Zigeunerdorf Cibaire welches von spanischen Gitanos mit rothbrauner Gesichtsfarbe bewohnt ist u. die wahrscheinlich maurischer Abstammung sein mögen.b||

In Bayonne habe ich mir das Vergnügen gemacht das naturwissenschaftliche Museum zu besuchen, welches, wenn auch im vorigen Jahre theilweise ein Raub der Flammen wurde, mir dennoch gestattete, einen Einblick in die Fauna der Pyrenäenkette zu machen. – Unter den Säugethieren fand ich den kleinen braunen pyrenäischen Bären, den Eber, diverse Fragmente eines Walfischskelettes, dessen Repraesentanten im XI. und XII. Jahrhunderte hier und in St. Jean de Luz in großer Anzahl erbeutet wurden, unter den Nagern viele Varietäten von Ratten und insbesondere die Bisamratte, unter den Vögeln diverse Adler, Geier (Gypaetus barbatus u. vultur fulvus) Falken, Milane und Sperber, die Ohreule || das Käuzchen, der Uhu, der Auerhahn, das rothe Feldhuhn, das weisse Rebhuhn, cdie weisse Amsel usw. – unter den Fischen ein schönes Exemplar von einem Seeteufel. Da der Director des Museums zur Zeit meines Besuches nicht gegenwärtig war, so war ich verhindert die andere Seite des Museums in Augenschein zu nehmen. –

Die Stadt Biarritz liegt nach meinen barometrischen Messungen circa 95 Meter über dem Meeresspiegel und die nachstehenden von mir aufgenommen barometrischen Beobachtungen über die Temperatur und den Luftdruck des Ortes könnten Sie vielleicht interessieren:

4 December 781 C 15° SO kl.

5 " 783 C 11 ON kl.

6 " 788 C 13 N kl.||

7 December 778 C 13° W Bew.

8 " 783 C 14 W Bew.

9 " 774 C 14 NW kl.

10 " 776 C 14 SO kl.

11 " 780 C 13 NW B

12 " 780,5 C 14 O kl.

13 " 776 C 12 ON kl.

14 " 783 C 15 W Bew.

15 " 784,5 C 15 W Bew.

16 " 782,5 C 11 WN Bew.

17 " 779 C 13 NO kl.

18 " 780,5 C 3 O kl.

19 " 783 C 3 N kl.

So könnte ich Ihnen noch Vieles mittheilen, aber ich fürchte, Sie mit || meinen Plaudereien zu langweilen, welche ich für dieses Mal damit aufhebe, daß ich mir erlaube unter die hohe Protection Ihrer lieben Frau und Tochter zu flüchten, indem ich mir die Freiheit enehme Ihnen beifolgende Festkarten zu übersenden und Sie um die Vermittelung meiner herzlichsten Grüße und Wünsche zu bitten. –

Bevor ich meinen Brief schließe halte ich es nicht für überflüßig Ihnen mitzutheilen, daß ich von H. Prof. Semon einen Brief erhalten und denselben auch beantwortet habe. –

Mit dem Wunsche, daß es Ihnen stets wohl gehen möge und Sie von Ihrem rheumatischen Leiden nicht wieder geplagt werden möchten, – übersende ich Ihnen meine herzlichsten Grüße und zeichne mit Hochachtung

Ihr ergebener

Paul Ritter

Anbei zwei Festkartenf||

Fräulein Kucera hat mich beauftragt Ihnen ihre ergebensten Grüße zu vermelden. –g

a gestr.: seinen b letzte Graphen und Worte ("mung sein mögen.") am Fuß von S. 1 nachgetragen c eingefügt: die weisse Amsel; d gestr.: damit e eingef.: nehme Ihnen f Schlußworte ("Ihr […] Festkarten") am Fuß von S. 5 nachgetragen g Nachtrag vertikal am linken Rand von S. 8

Brief Metadaten

ID
9316
Gattung
Brief ohne Umschlag
Entstehungsort
Entstehungsland aktuell
Frankreich
Entstehungsland zeitgenössisch
Frankreich
Datierung
19.12.1891
Sprache
Deutsch
Umfang Seiten
8
Umfang Blätter
4
Format
13,5 x 21,5 cm
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 9316
Zitiervorlage
Ritter, Paul von an Haeckel, Ernst; Biarritz; 19.12.1891; https://haeckel-briefwechsel-projekt.uni-jena.de/de/document/b_9316