Paul von Ritter an Ernst Haeckel, Basel, 9. November 1889
Basel.
8 Schärtlingasse 8
9r November 89
Hochgeehrter Herr Professor,
Ihre geehrten im Laufe des Sommers an mich gerichteten Zuschriften habe ich alle, aber in verschiedenen Zeitabschnitten, erhalten, da ich aber von Basel häufig abwesend war, so konnten dieselben mir nur spät behändigt werden und bitte ich wegen verspäteter Beantwortung um gütige und nachsichtsvolle Entschuldigung. Getragen von Ihrer geistigen Macht und Würde haben Sie, wie ein Adler, die armselige, aber sittlich-reine Hütte eines freidenkenden Philosophen umschwebt ohne dieselbe eines flüchtigen Ehrenbesuches gewürdigt zu haben. – Den Kampf ums|| geistige Dasein führe ich mit den Waffen der monistischen Weltanschauung und genieße mit Demokrites und Spinoza die süßen Früchte irdischer Glückseligkeit. Meine Religion ist die Kultur des Fortschritts und meine Gefühle verschwimmen wie der lebendige Tropfen eines laufenden Stromes in dem Allgemeingefühle der ganzen Menschheit. – Empfangen Sie meinen innigsten Dank für die mir zugeschickte achte und vermehrte Auflage Ihres prächtigen, epochemachenden Werkes über die natürliche Schöpfungsgeschichte. – Der geschmackvolle Einband mit der schwungvollen Adresse wird mich stets an seinen herrlichen Inhalt und seinen freundlichen Geber lebhaft und angenehm erinnern. Der intuitive Verstand ist nicht allein den mit hoher Weisheit begabten Gelehrten, sondern auch allen denjenigen gegeben, welche die göttliche|| Materie fühlen und eine richtige Stellung in der Schöpfung einnehmen. – Der mächtige Fortschritt, welchen alle Zweige der Naturwissenschaften auf dem Gebiete der modernen Forschung machen, ist bewunderungswürdig und erlaube ich mir bei dieser Gelegenheit auf zwei merkwürdige psychologische Übergangsströmungen aufmerksam zu machen, über welche ich Ihnen das Urtheil überlasse. – Mit zartem, blüthenreichem Bekenntnisse gesteht Sir John Lubbock in seinem Werke „Das Leben der Pflanze“ daß wir über das Leben und die Erscheinungswelt der Pflanze so viel kennen, daß wir mit wissenschaftlicher Unwissenheit bekennen müssen, Nichts zu kennen, während Professor Dr. Philipp Stöhr in seiner schon nach|| 8 Monaten umgearbeiteten und vermehrten Auflage seiner schönen und praktischen Histologie (Verlag von G. Fischer, Jena 1889) auf pag. 34 seines Werkes die Urzeugung leugnet und mit scholastischer Weisheit die Typen der Schöpfung einem göttlichen Willensakte unterordnet. – Ich danke dem gütigen Geschicke in die sogenannten dunklen Reihen der freidenkenden und freifühlenden Philosophen des XVI u. XVII Jahrhunderts von conventionellen Heuchlern amich zurückgedrängt zusehen und rufe diesen Letzteren die ernsten und erhabenen Worte des Dominikaners Giordano Bruno ins Gedächtniß, welche er seinem blutdürstigen Richter entgegenrief: „Non sono maschio ni femina, sono cittadino e domestico del mondo, sono figlio del padre sole e delle madre terra.“ –
Es hat mich gefreut, daß Sie Ihre liebe Familie einen|| angenehmen und nützlichen Aufenhalt für die Gesundheit in diesem Sommer in Baden-Baden gehabt haben und daß die von Ihnen gewählte Odyssee im Kanton Tessin zu Ihrer Zufriedenheit ausgefallen ist. –
Gelegentlich wundere ich mich, daß der ehemalige Inhaber der meinen Namen tragenden Professur für Phylogenie in Jena vergessen hat mir dieses Mal seinen öffentlichen Vortrag zu schicken. –
Mit einem freundlichen Gruß,
Hochachtungsvoll. –
Paul Ritter
a eingef.: mich