Paul von Ritter an Ernst Haeckel, Basel, 30. November 1887

Basel.

8 Schärtlingasse 8

30r Novemb 87

Hochgeehrter Herr Professor,

Empfangen Sie meinen innigsten und wärmsten Dank für das mir zugeschickte Werk über die Radiolarien und die mich ehrende Zueignung, welche ich annehme, trotz dem schwülen und reaktionären Geiste unserer Zeit ohne Gefahr zu laufen das Schicksal eines Jordano Bruno zu theilen, sowie meine herzlichsten Glückwünsche für die herrliche, fruchtbringende und anerkennenswerthe Idee in dem Grundrisse einer allgemeinen Naturgeschichte der Radiolarien das geheimnißvolle Walten || der Natur und den Zauber ihrer unendlichen, schönen und zierlichen Formen einem größeren Leserkreise vorgeführt und an den unvollkommenen Schönheitssinn der Menschen appellirt zu haben. Wenn die schönen Künste der Menschen nach Naturimitation und Schönheit streben, so können sie doch niemals die Formvollendung erreichen, welche die nackte und unverschleierte Natur uns darbietet und von diesem Gesichtspunkte aus dürfte Ihr schönes Werk über die Radiolarien zur Bildung eines geläuterten Schönheitssinnes viel beitragen und sollte in keinem Künstlergemache und eleganten Damenboudoire fehlen. – Die Anhänger der aristotelischen Entelechie und die Vertreter der Künste aller Nationen, indem sie ihre schönsten Träume in Ihrem herrlichen Werke über die Radiolarien verwirklicht fänden, hätten für alle Zeiten Ihnen || unendlichen Jubel zugejauchzt! –

Aber nicht die wunderbar praktische Idee, von welcher die Herausgabe Ihres Werkes über die Radiolarien begleitet war, noch die an mich gerichtete schmeichelhafte Widmung war es, welche mich zu begeisterter Bewunderung dahinriß als ich Ihr Werk in Händen nahm, sondern der kühne und kecke Flug mit welchem Sie sich über die Vorurtheile unserer Zeit erheben und mit ihm das öffentliche Bekenntniß ablegten, daß die Entwickelungslehre auf dem Wege des Beobachtens und des Experiments zur wahren Naturerkenntniss für und daß allein die Vernunft das unbestrittene Vorrecht hat der beste Probierstein der Wahrheit zu sein. –||

Diese offene Expectoration über Ihr Werk und Ihr offenes Bekenntniß über die Wahrheit, welche Sie lehren, richtet in liebender Freundschaft an Sie mein Geist aus meiner Seele, aber an adie im Schlamme der Vorurtheile versunkene servile Welt (i. e.) vom geistigen Standpunkte, denn ohne Gesetz u. Religion kann keine Gesellschaft bestehen), adressire ich das von mir übersetzte Sonnett an die menschliche Einfalt des sieben Male gefolterten und 27 Jahre wegen Gedankenfreiheit im Kerker verbrachten Italienischen Gelehrten Campanella 1622. O! heilige und himmlische Einfalt, Du Mutter der Unwissenheit, Dummheit u. muckerischer Frömmelei, die Du den Geist u. die Seele der Menschen besser zu befriedigen vermagst als jede reine wissenschaftliche Erkenntniß. –

Kein nächtliches Wachen, keine Arbeit und keine hehre Philosophie ist im Stande den Himmel zu erreichen wo Du Deine Wohnsitze aufgeschlagen hast! –

Licht- und Wahrheitsliebende Geister! Wozu nutzt euch das || Studium der Natur und die Erkenntniß der Gestirne ob sie dem Feuer, der Erde oder dem Wasser entsprossen sind? –

Du heilige und himmlische Einfalt verachtest dieses Alles zu wissen, weil Du Dich in der Glückseligkeit gefällst, die Du mit gefalteten Händen und gebeugten Knieen vom Himmel erflehst! –

Dich bekümmert u. betrübt Nichts in der Welt außer der Sorge für die Sehnsucht nach stiller, himmlischer Ruhe, welche || das gütige Geschick dem Menschen erst nach dem irdischen Tode zu bereiten pflegt. –

Mit herzlichem Danke für die reichen Beweise der Sympathie und für die vielen angenehmen Augenblicke, welche mir Ihre liebe Freundschaft im Leben, bereitete, – schließe ich diese Zeilen mit herzlichen Grüßen und stets wachsender Hochachtung,

als Ihr ergebener

Paul v. Ritter

a eingef.: die

Brief Metadaten

ID
9274
Gattung
Brief ohne Umschlag
Entstehungsort
Entstehungsland aktuell
Schweiz
Entstehungsland zeitgenössisch
Schweiz
Datierung
30.11.1887
Sprache
Deutsch
Umfang Seiten
6
Umfang Blätter
3
Format
14,0 x 22,4 cm bzw. 14,0 x 8,8 cm
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 9274
Zitiervorlage
Ritter, Paul von an Haeckel, Ernst; Basel; 30.11.1887; https://haeckel-briefwechsel-projekt.uni-jena.de/de/document/b_9274