Paul von Ritter an Ernst Haeckel, Basel, 7. Mai 1887

Basel

8 Schärtlingasse

7t Mai 1887

Hochgeehrter Herr Professor,

Während es draußen bei uns regnet und stürmt, die Bäume des Jura mit Schnee bedeckt sind und die Sonne ihr Unterleibchen noch nicht ausgezogen hat, – ist es für ein sinniges Gemüth eine hohe Frühlingswonne, von einem lieben Freunde, welcher, nach einer gefährlichen und mühevollen Reise nach dem Orient, mit reicher wissenschaftlicher Ausbeute den heimathlichen Herd seiner Penaten glücklich erreichte, volle und befriedigende || Nachrichten zu erhalten. – Wenn ich auch auf Ihre freundlichen aus diversen Stationsorten an mich gerichtete Correspondenzkarten nicht habe antworten können, – so wurde mir damit die Möglichkeit gegeben Ihnen im Geiste nachzufahren und mich Ihrer bei meinem diesjährigen Besuche und Studio der Mycenäischen, Rhodischen, Cyprischen und Phoenizischen Kunstabtheilungen im Louvre mit gemüthlicher Vorliebe zu erinnern. – An diesem Orte kann der unbefangene und vorurtheilsfreie Beobachter die Kunstgeschichte und ihre Entwickelung studiren und den roten Faden der Vergangenheit erfassen, welcher ihn von Asien nach Egypten || u. von hier nach Klein-Asien (Smyrna –Mycäne), Phoenizen, Griechenland und auf die von Kunst und Poesie duftenden Inseln seines Archipels hinüberführt. – Ich bin 4 Wochen in Paris gewesen und alle Tage ebenso viele Stunden im Louvre. – Auch habe ich die sehr interessante Sammlung prähistorischer Gegenstände in St. Germain besucht und kann vom paläontologischen Standpunkte sie allen Liebhabern nur aufs Wärmste empfehlen. – Sie ist klein, aber sehr gut geordnet. – Auch ist es mir nach langem Suchen in Paris gelungen eine sehr ingeniose abildliche Darstellung der Entwickelung unseres Planetensystems zu finden. – Der Erbauer dieses kunstvollen Zimmerobservatoriums ist ein einfacher aber talentvoller Mechaniker gewesen und mußte mit allen irdischen Größen das Schicksal theilen ohne Lärm von Pauken und Trompeten aus der Welt zu scheiden. – Ich glaube || dieses nützliche Spielwerk, welches nur 24 fr kostet, würde gewiß auch S. K. H. vom Standpunkte der viel besprochenen Einführung populärer Astronomie in die Schule nicht übel gefallen. – Den Nutzen der Entwickelungslehre kennen leider nur wir Beide, welchen dieselbe eine unverzichtbare Quelle immer neuer Wahrheiten offenbart. – Wie geistesblind sind doch die Menschen und diejenigen, welche ihre Geschicke und moralische d. h. naturphilosophische Ausbildung zu leiten berufen sind. – Die kleine Geldschenkung wiegt gewiß nicht die reichen Schätze der Wahrheit auf, welche ich als homo sapiens aber als thierischer Egoist für mich und mein practisches Leben gezogen habe. – Der Samen, welcher jetzt ausgestreut wird, soll und kann ja nur erst in ferner Zukunft seine Früchte tragen. – Aber die bfortschrittliche Welt fängt cja schon an den mittelalterlichen Schleier zu zerreißen und sich ddamit von aller geistigen Vormundschaft zu befreien. – Beiliegend ein Zeitungsausschnitt aus welchem Sie ersehen können, wie wichtig es ist, daß angehende Naturforscher sich erst in Jena ein richtiges Beobachten aneignen. – In der Ernährung und dem Wachsthum der Zelle ist jede Appartitionstheorie alt und hinfällig, denn das Wunderbare der Lebenskraft besteht eja gerade in dem Vermögen anorganische und todte Substanzen zu assimiliren u. dann wieder zu dissimiliren d.h. || durch chemische Prozesse aufzunehmen, in sich zu verarbeiten und das Unbrauchbare wieder auszuscheiden. – Die Lebenskraft und ihr Strom geht von außen nach innen und von innen wieder nach außen. – Ist also ein intra-organischer Prozess. – Mit Ihnen bin ich zufrieden, daß Sie endlich einmal das große Challengerwerk beendigt haben. Vor der Hand meinen herzlichsten Dank, daß Sie an mich gedacht haben, indem Sie mich mit einem Exemplar desselben beschenken. – Wann werden wir uns sehen um uns freundschaftlich faussprechen zu können u. à la Democrites über die Dummheiten unserer Zeitgenossen zu lachen. Ich freue mich, daß das Zoolog. Laboratorium so besucht ist, was ja wie der Zeitungsausschnitt hbeweist sehr nothwendig ist. Meine herzlichsten || Herzliche Grüße an Ihre liebe Frau u. meinen Dank, daß sie meiner gso freundlich gedacht hat. Auch Fräulein Kucera erinnert sich Ihrer u. läßt sie freundlichst grüßen

Hochachtungsvoll

R ||

iStatt der versprochenen öffentlichen Vorlesung ist ja die Veröffentlichung Ihrer Orientreise ein ebenso hochherziges und großes Geschenk an die Menschheit und Feuerbachs Worte „wo Unterschied ist da ist Neid, wo Neid da ist Streit u. wo Streit da ist keine Seligkeit jsind mit der wahrheitsstiftenden Lehre des phylogenetischen Entwickelungssystems der Weltschöpfungstheorie – eitele Seifenblasen!

a eingef.: bildliche; b eingef.: fortschrittliche; c eingef.: ja schon; d eingef.: damit e eingef.: ja gerade; f verbessert: aussprechen aus: auszusprechen, eingef.: zu können; g eingef.: so freundlich h eingef.: beweist; i Text auf dem Rand der zweiten Seite des Briefes j gestr.: ist mit

Brief Metadaten

ID
9268
Gattung
Brief ohne Umschlag
Entstehungsort
Entstehungsland aktuell
Schweiz
Entstehungsland zeitgenössisch
Schweiz
Datierung
07.05.1887
Sprache
Deutsch
Umfang Seiten
4
Umfang Blätter
2
Format
14,0 x 22,0 cm
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 9268
Zitiervorlage
Ritter, Paul von an Haeckel, Ernst; Basel; 07.05.1887; https://haeckel-briefwechsel-projekt.uni-jena.de/de/document/b_9268