Fritz Müller an Ernst Haeckel, Desterro (Brasilien), 3. Juni 1866

Herrn Prof. Dr. E. Hackel

Jena

Desterro, Brazil, 3. Juni 66.

Hochgeehrter Herr Professor!

Nach manchen Fährlichkeiten zu Wasser und zu Lande, – denn noch hier waren sie um ein Haar bei einer Feuersbrunst im Zollhause mit verbrannt, – sind endlich vor einigen Wochen Ihre Abhandlungen über fossile Quallen, über die Sarcode der Rhizopoden und Ihre Monographie der Geryoniden, wohlbehalten in meine Hände gelangt. Herzlichen Dank für diese freundlichen und mir hochinteressanten Gaben! – In Bezug auf fossile Quallen darf ich Sie vielleicht darauf aufmerksam machen, daß nach Agassiz, Contributions III. S, 125, auch im Grossherzoglichen Museum in Carlsruhe eine fossile Qualle von Solenhofen sich findet. Große Freude hat mir Ihre gelungene Abfertigung Reichert’s gemacht; ihn selbst werden Sie freilich dadurch nicht von seiner Schlingentheorie abbringen.

Vor Allem war mir natürlich Ihre wunderbare Entdeckung des Zusammenhangs zwischen den Geryoniden und Aeginiden von allerhöchstem Interesse. Sie werden begreiflich finden, daß ich die erste flüchtige Kunde, die mir von Ihrer Entdeckung wurde, ziemlich ungläubig aufnahm; doch hat mich Ihr Buch von meinen Zweifeln fast vollständig geheilt. Eines nura ist mir noch etwas bedenklich vorgekommen; wenn der Zapfen, an dem die 8strahligen Cunina sprossen, der Zungenkegel der Geryonide ist, wie mag es kommen, daß er anscheinend lose im Magen liegt oder doch bei leiser Berührung sich lost, da doch der Zungenkegel mit breiter Basis den ganzen Grund des Magens füllt? Trotzdem scheint mir jede andere Deutung, die man dem Vorkommen der Cuninazapfen im Geryonidenmagen geben konnte, weit unwahrscheinlicher, als die von Ihnen gegebene. – Das Meer || war in diesen Wochen sehr wenig dem Quallenfänge günstig; so habe ich nur eine geringe Zahl (etwa 20) Liriope untersuchen können, von denen nur eine, ein mittelgroßes Thier, eine kleine Knospenähre im Magen hatte, auf deren Befestigungsweise ich leider nicht geachtet habe. Die Knospen können wirklich kaum etwas andres werden, als Cunina; sie sind den von Ihnen in Carmarina gefundenen weit ähnlicher, als meine frühere Abbildung es zeigt. Namentlich fehlt auch das lange Magenrohr nicht. –

Als ich die Entwicklung der 12strahligen Brut im Magen der Cunina Köllikeri verfolgte, war es mir im höchsten Grade auffallend, unter hunderten von Männchen kein einziges Weibchen zu finden. Gleichzeitig war Liriope häufig. Nach Ihrer schönen Entdeckung ist vielleicht die Vermuthung erlaubt, daß durch den Samen jener Cunina Eier von Liriope befruchtet wurden. Es möchte vielleicht der Mühe lohnen, künstliche Befruchtung in dieser Richtung zu versuchen. – Ob die 12strahlige Brut von Cunina Köllikeri zu Weibchen werden? –

Bei Ihrer Art hat sowohl die Carmarina als die Cunina Mannchen u. Weibchen; ob etwa, wie bei den dimorphen Pflanzen, die Männchen einer Form die Weibchenb der andern befruchtenc,d? –

Ihre Einwendungen gegen meine Trennung der Aeginiden e von den Craspedoten muß ich sämtlich als vollkommen begründet anerkennen; mein Aufsatz ist noch aus vor Darwin’scher Zeit. – Ihrer Ansicht, daß die Aeginiden eine uralte Quallenform darstellen, in der viele der heutigen Quallen ihre gemeinsamen Ureltern finden, stimme ich bei; nur mochte ich die Charybdeiden nicht als einfache Übergangsstufe || zu den Acraspeda ansehen; in vielen Beziehungen sind sie allerdings der Urform der Aeginiden ahnlicher geblieben, als irgend welche andre Quallen, in andrem aber scheinen sie mir hoher, als alle anderen entwickelt. –

Seit die Geryoniden als nahe Vettern der Charybdeiden betrachtet werden dürfen, scheint es mir möglich, auch über ein mir bisher völlig räthselhaftes Gebilde eine Vermuthung zu wagen. Wie aus dem Grunde der Glocke von Carmarina oder Liriope der in dem Zungenkegel endende Magenstiel niederhangt, so aus dem Grund der Glocke von Tamoya quadrumana die acht fingerförmigen Fortsätze, freilich nicht frei in den Magen, sondern in besondere Divertikel der verdauenden Höhle. Immerhin mögen auch diese Fortsatze wohl als Knospenstocke dienen. Wie bei den Geryoniden Arten mit u. ohne Zungenkegel sich finden, so fehlen bei Tamoya haplonema jene Fortsätze. – Schade, daß die Art so selten ist, (in 10 Jahren sah ich kaum ein halbes Dutzend), daß sich schwerlich Gelegenheit finden wird, jene Vermuthung zu prüfen. –

Merkwürdig ist es, daß von den Geryoniden kaum eine Craspedotengattung im Bau der Geschlechtstheile sich weiter entfernt als Olindias, die durch die centripetalen Gefäße, durch die zweierlei Tentakel, von denen die einen ziemlich starren, in der Jugend verhältnismäßig zahlreicher, in frühester Jugend wahrscheinlich allein vorhanden sind, – so auffallend an sie erinnert. –

Während ich nach Liriope fischte, fing ich einige Exemplare der älteren Maulfüßerlarve, die ich im Archiv für Naturgeschichte 1862 abbildete, und fand, daß ihr Herz noch ganz nach Lage und Bau das einer Decapoden-||Zoëa ist, auch die Leber noch nicht über den mit dem Rückenschilde verwachsenen Leibesabschnitt hinausgeht. Die Larve kann also nicht mit der jüngeren Maulfüßerlarve (Ebda. 1863, Taf. I) zur selben Art gehören. – Wieder eine harte Nuß für diejenigen, die an einen Bau und Entwicklung jeder Klasse, Ordnung regelnden gemeinsamen Plan glauben! –

Eine Larve, die äußerlich schon vollständig Maulfüßer, noch nichts von der eigenthümlichen Bildung ihres Herzens zeigt, und daneben eine andre, die äußerlich Niemand als dieser Ordnung zugehörig erkennen wurde, die aber diese Zugehörigkeit auf den ersten Blick durch den Bau ihres Herzens verräth! –

Seit lange, seit beinahe einem Jahre hat mich die Pflanzenwelt fast vollständig vom Meere abgezogen. Seit ich mich, vor etwa 10 Jahren, einigermaßen in unserer Flora orientirt hatte, war ich Jahre lang ausschließlich mit den Thieren beschäftigt, und finde nun, als Darwinianer, so viel Neues und Anregendes, ein so viel tieferes Verständniß, daß ich trotz wiederholten Vorsatzes, mich dem Meere wieder zuzuwenden, noch nicht von der Scientia amabilis habe loskommen können. Augenblicklich fesselt mich die herrlichste aller Familien, die der Orchideen. –

Ist von den deutschen Botanikern noch Einer zu unserer Fahne gestoßen? –

Mit dem Wunsche, daß Ihnen das Mittelmeer reiche Ausbeute bringe,

herzlich grüßend

Ihr

Fritz Müller

Meine besten Grüße an Gegenbaur! –

F. M.

a eingef.: nur; b gestr.: von den Männchen; eingef.: die Weibchen; c korr. aus: befruchten; d gestr.: werden; e gestr.: und

Brief Metadaten

ID
9223
Gattung
Brief ohne Umschlag
Entstehungsland aktuell
Brasilien
Entstehungsland zeitgenössisch
Brasilien
Datierung
03.06.1866
Sprache
Deutsch
Umfang Seiten
4
Umfang Blätter
2
Format
13,5 x 20,8 cm
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 9223
Zitiervorlage
Müller, Fritz an Haeckel, Ernst; Desterro (Florianópolis); 03.06.1866; https://haeckel-briefwechsel-projekt.uni-jena.de/de/document/b_9223