Müller, Fritz

Fritz Müller an Ernst Haeckel, Desterro (Brasilien), 4. März 1865

Desterro, Brazil, 4 März 66.

Hochgeehrter Herr Professor!

Ihre freundlichen Zeilen vom 10. Januar erhielt ich vor Kurzem und beeile mich, Ihnen dafür und für die Übersendung Ihrer Aufsätze über Geryoniden u. s. w. schönstens zu danken. Die letzteren sind noch nicht hier angelangt; das Schiff, welches sie wahrscheinlich an Bord hat, erwarteten wir schon Ende December; aber es ist zweimal durch Stürme beschädigt und gezwungen worden, nach England zurück zu kehren, von wo es am 22. Januar noch nicht wieder ausgelaufen war. Auf Ihre Geryoniden-Arbeit bin ich nach dem, was mir Max Schultze über das Knospen von Cunina in der Magenhöhle von Geryonia mitgetheilt, in hohem Grade gespannt.

Für Ihren Besuch des Mittelmeers möchte ich Sie bitten, ein Auge auf Charybdea zu haben; ich möchte namentlich wißen, ob auch sie ein so deutliches Nervensystem besitzt, wie ihre hiesigen Familiengenoßen, die Tamoyen, u. ob ihre Geschlechtstheile in ähnlicher Weise gebaut sind. – Wäre es nicht wahrscheinlich, daß ich noch im Laufe dieses Jahres Desterro verlaße und in den Urwald am Itajahy zurückgehe, so würde ich Sie einladen, Ihren Urlaub statt zu einem Ausflug ans Mittelmeer zu einer Reise hieher zu benutzen; auf der Überfahrt würden Sie Physalien u. andre Thiere des hohen Meeres untersuchen können. – Ich beneide Sie um diese Reise von Monaten, die Sie ganz dem Meere widmen können; mir sind jetzt der freien Stunden äußerst spärlich zugemeßen. –

Auf Ihre „Morphologie“ freue ich mich sehr u. werde Max Schultze beauftragen, mir sie sofort nach dem Erscheinen durch die Post zu schicken. –

Wie angenehm es mir war zu erfahren, daß Sie bereits entschloßen sind, mit Gegenbaur eine Zeitschrift zur Vertretung und Verbreitung unserer Ansichten herauszugeben, darf ich Ihnen nicht besonders versichern, und es versteht sich von selbst, daß ich mich mit ganzer Seele an dem || Unternehmen beteilige; Großes freilich dürfen Sie von mir nicht erwarten; zu lange habe ich nun schon im Urwald und auf meiner fernen Insel gelebt, um nicht weit hinter dem heutigen Stande der Wißenschaft zurück geblieben zu sein; mit Mühe habe ich mich auf einigen beschränkten Gebieten einigermaßen au fait gehalten. – Vollkommen einverstanden bin ich mit Ihnen darin daß bloß descriptive Mittheilungen streng auszuschließen sind. Was schon vor mehr als 20 Jahren Liebig (Vorwort zur Thierchemie) von der kleinsten chemischen oder physicalischen Arbeit forderte, um ihr Anspruch auf Beachtung zua zugestehen, daß „aus einer gewißen Anzahl von Beobachtungen ein Schluß, gleichgültig ob er viel oder wenig umfaße, müße gezogen werden können“ – wird von unseren meistenb Fachgenoßen noch heute nicht anerkannt. – Auch darin stimme ich Ihnen bei, daß ein großer Theil der Zeitschrift fürs Erste der Kritik gewidmet sein muß; ich werde Ihnen in dieser Richtung eine kritische Beleuchtung des Begriffs „Typus“ schicken u. zu zeigen suchen, wie vag und willkürlich c in seiner Anwendung derselbe in den verschiedenen Auffassungen ist, in denen man ihn bisher gebraucht, wie er dagegen von Darwin’s Lehre aus vollste Bestimmtheit und Schärfe erhält. – In einem anderen Beitrage gedenke ich die genetische Beziehung der Rhizocephalen zu den Cirripedien zu besprechen; für die Schule sind diese ihr Lebelang mund und magenlosen Kruster mit ihrer beispiellosen Ernährung durch wurzelartige Röhren gewiß eine harte Nuß; dagegen ist von Darwin’s Standpunkt aus ihre Herleitung aus den Rankenfüßern eine so einfache, daß ich mich heute nur wundre, wie ich sie früher habe übersehen können. Zunächst ist nemlich leicht darzuthun, daß die Wurzeln der Rhizocephalen den sog. „Kittröhren“ der Cirripedien homolog sind. Nun laßen Sie einen Cirripedien sich z. B. || an den weichen Hinterleibe eines Pagurus ansiedeln und seine Kittröhren durch die weiche Haut in dessen Leibeshöhle eindringen. Sofort mußte ein endosmotischer Austausch zwischen der Leibesflüßigkeit des Pagurus und dem Inhalt der Kittröhren eintreten; dieser Austausch mußte die Ernährung des Rankenfüßers beeinflußen und die neue Nahrungsquelle mußte, als immerfließend, einen großen Vorzug haben vor der auf zufällig sich bietende Beute angewiesenen Ernährung durch den Mund. – Jede weitere Ausbildung der neuen Nahrungsquelle daher dem Thiere vortheilhaft; dadurch endlich die Ernährung durch den Mund ganz überflüßig und in Folge davon völliges Verkümmern von Rankenfüßen, Mundtheilen, Magen u. s. w. – In Anelasma squalicola haben wir einen Rankenfüßer, der auf dem besten Wege scheint, aus ganz gleichem Grunde all dieser Theile verlustig zu gehen. –

Angeregt durch mehrere Abhandlungen, die mir Darwin geschickt hatte (über Orchideen, Schlingpflanzen u. s. w.) habe ich mich während längerer Zeit fast ausschließlich mit botanischen Gegenständen beschäftigt und bin erst ganz kürzlich zur Zoologie zurückgekehrt. Augenblicklich bin ich mit unseren Amphipoden beschäftigt;

ob sie große Ausbeute für Darwin liefern werden, weiß ich noch nicht. Für meine auf Darwin’s Lehre gebaute Ansicht, daß die Tanais eine sehr alterthümliche, der „Urassel“ unter den lebenden Isopoden zunächst stehende Form sind, erhielt ich eine unerwartete Bestätigung in einem Briefe von Spence Bate, der mir mittheilte, daß bei der nächstverwandten Gattung Apseudes selbst noch der zweite Ast der hinteren Fühler (die „Schuppe“ des Garneelenfühlers) vorhanden ist, den alle anderen heutigen Edriophthalmen verloren haben. –

Den wesentlichen Inhalt meines ersten Briefes an Sie kennt Max Schultze; den Inhalt Ihrer Antwort werde ich natürlich Ihrem Wunsche gemäß nicht gegen ihn erwähnen. – ||

Sie fragen, ob ich nicht Lust habe, an einer deutschen Universität zu wirken. Ich muß gestehen, daß ich mir selbst die Frage noch nicht vorgelegt aus dem einfachen Grunde, weil ich nicht an die Möglichkeit eines Rufes gedacht; schon als Freigemeindler würde mich wohl keine deutsche Universität als Lehrer wollen. – Für Darwin auch durch das lebendige Wort wirken und ihm unter dem heranwachsenden Geschlecht neue Jünger werben zu können, würde für mich allerdings sehr verlockend sein. Nach Allem aber, was ich von Bekannten höre, die von hier aus Deutschland wieder besucht haben, glaube ich nicht, daß ich mich in dem dortigen Leben wieder wohl fühlen würde. Die hiesigen geselligen u. politischen Verhältniße sind durchaus nicht beßer, in vieler Hinsicht schlechter, als drüben; aber der Ausländer kann sich ungestraft über Vieles hinwegsetzen, was dem Eingebornen die Sitte gebietet und lebt jedenfalls weit ungebundener, als irgendwo in Deutschland. Mein Sehnen für die Zukunft hat sich daher bisher noch nie zurück ins alte Vaterland, sondern zurück in meine Urwaldshütte am Itajahy gewendet. –

Für Ihre Photographie besten Dank. Die meinige, so gut sie eben hier zu haben ist, lege ich Ihnen in duplo bei, für Sie und Gegenbaur, um auch dessen Bild neben dem Ihrigen zu erhalten. –

Würde nicht auch Claus als entschiedener Mitarbeiter an Ihrer Zeitschrift thätig sein wollen? In einem Briefe rechnet er sich wenigstens zu den „jungen Ketzern“ der zoologischen Dogmatik gegenüber; in seinem Copepodenwerk spricht er sich allerdings nur etwas zaghaft für Darwin aus. –

Herzlichen Gruß an Gegenbaur. Mit vollster Hochachtung

Ihr Fritz Müller.

a eingef.: zu; b eingef.: meisten; c gestr.: derselbe

 

Letter metadata

Verfasser
Empfänger
Datierung
04.03.1866
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 9222
ID
9222