Othenio Abel an Ernst Haeckel, Wien, 27. Oktober 1918
PALAEOBIOLOGISCHER LEHRAPPARAT DER K. K. UNIVERITÄT WIEN.
Wien, 27. Oktober 1918.
Euere Exzellenz!
Beiliegend übersende ich einen Sonder Abdruck meiner kleinen Studie über die alttertiären Primaten Europas, wovon ich Ihnen im vergangenen Herbste, als ich das Glück hatte, Sie in Jena besuchen zu können, erzählte. In nicht allzu ferner Zeit hoffe ich einen SonderAbdruck meiner Studie „Über die Urheimat der Hominiden“ zusenden zu können, in der ich eingehender darlegen werde, daß m.E. die Heimat der Hominiden ebenso wie das Entstehungszentrum aller Primaten überhaupt nicht in den tropischen Randgebieten, sondern im Zentrum Asiens, wahrscheinlich im heutigen Tibet und SW-China zu suchen ist, von wo aus die zunehmende Verschlechterung des Klimas vom Tertiär an, die den Randgebieten immer um einen Schritt voraus war, die verschiedenen Auswandererwellen der Primaten ins Rollen brachte.
Lassen Sie mich bei dieser Gelegenheit sagen, daß die beiden Besuche im vergangenen Jahr, Ende November, mir durch die Fülle der Anregungen und Eindrücke mein ganzes Leben lang unvergesslich bleiben werden. Als ich als 17 jähriger Gymnasiast zum erstenmale Ihre „Anthropogenie“ nicht las, sondern verschlang, || stand in mir der Entschluß fest, auch auf diesem Gebiete der Naturwissenschaften mein Scherflein zur Erkenntnis beitragen zu können. So sind Sie, obwohl ich nie das Glück gehabt habe, Sie zu hören, doch zuerst mit diesem Buche mein Lehrer gewesen.
Ich hoffe, Ihnen in Bälde (falls die Druckerei nicht stecken bleibt) meine „Stämme der Wirbeltiere“, die recht umfangreich geworden sind, senden zu können. Seit dem Erscheinen Ihrer systematischen Phylogenie der Wirbeltiere ist unsere Kenntnis von diesen Formen resp. von den Vorfahren derselben ausserordentlich angewachsen. Wir sind heute in der Lage, viel mehr verschiedene Stämme von Fischen, Amphibien und Reptilien unterscheiden zu können als vor einem Vierteljahrhundert und sehen auch klarer in das Geflecht der verwandtschaftlichen Beziehungen hinein als früher.
Gegenwärtig bin ich mit Studien über die Paläobiologie der Echinodermen beschäftigt, die mir sehr viel Genuss bereiten; ich beabsichtige, eine Gruppe der Wirbellosen nach der andern in der Weise durchzuarbeiten wie die Vertebralen und die Cephalopoden, will aber nach Abschluß dieser Untersuchungen wieder zu meiner alten Liebe, den Vertebralen, zurückkehren.
Falls meine Bitte nicht zu unbescheiden ist, so würde ich Ihnen zu größtem Danke verpflichtet sein, wenn Sie mir gelegentlich einige Ihrer Arbeiten aus früherer Zeit überlassen könnten. Ich kann mich zwar nicht mit gleichwertigen revanchieren, werde aber meine „Stämme“ sofort nach Empfang der Freiexemplare Ihnen zugehen lassen.
Daß Sie sich wieder erholt haben, hat uns Wiener aufrichtigst gefreut. Wir alle Wiener Naturhistoriker wünschen, daß Ihnen noch ein recht langer, sonniger Abend leuchten möge!
Mit dem Ausdrucke meiner aufrichtigen Verehrung
Ihr ganz ergebener
O. Abel