Karl Alberts an Ernst Haeckel, Godesberg, 3. April 1895

Godesberg 3/4 95.

Hochverehrtester Herr!

Jetzt, nachdem die hochgehenden, gegen den Friedrichsruher Granitfelsen so sympathisch anstürmenden Wogen der nationalen Begeisterung zu verebben beginnen – bis die anhebenden Orgien des zurückgebliebenen edlen Trifoliums Bebel-Spahn-Richter einen neue – hoffentlich nicht allzu lange ausbleibenden – Anprall hervorrufen werden, der die ganze S-bande wegfegen wird, würde ich u. viele mit mir doch gerne sehen, wie Sie, unser erhabener Führer, sich zu den andrängenden Hauptzeitfragen – von unsrem gemeinschaftlichen, einheitlich-naturwissenschaftlichen Standpunkte aus stellen.

Diese Fragen sind auch für uns nicht zu umgehen, sie umfassen in der That die Ideale der Zukunft, insofern die nationalen Ziele, nach ihrer Erreichung, den sozialen Platz gemacht haben – nicht, wie Herbert Spencer meint, die militärischen oder industriellen. Dena sogen. „Freisinnigen“ mit ihren brutal-manchesterlichen Grundsätzen werden wir uns sicher nicht anschließen können; sie entsprechen mehr der prähistorischen Urzeit, wo die stärkste Faust den Ausschlag gab. Denb pure-Nationalliberalen u. Freikonservativen dient || Eduard von Hartmann als Wegweiser. Daß dessen Anschauungen sich nicht mit denjenigen der modernen Wissenschaft decken, wissen Sie besser als ich. Von den übrigen, noch weiter „zurück“liegenden Parteien ganz zu schweigen.

Dringender wird das Bedürfnis, die monistische Auffassung auch auf jenem Gebiet endlich Farbe bekennen zu sehen, dadurch daß leider schon so manche Stimme aus unsren Reihen sich zum Wortführer aufschwang, ohne dazu berufen zu sein. Ich erinnere nur an die oberflächliche Arbeit von Ludwig Büchner (anbei). Auch andre, ernster zu nehmende Arbeiten in dieser Richtung sind voller Mißverständnisse u. haben die darwinistische Anschauung in ein schiefes u. irrtümliches Licht gebracht. (Cf. (beifolgende) Schrift des kürzlich verstorbenen Opfers der neuesten italienischen Polizeiwirtschaft, der uns im allgemeinen nahe gestandene Prof. Ferri). Aber auch manche Urteile von berufener Seite empfehlen sich dringend zu ausführlicher Modifizierung. So z. B. der fast zum Schlagwort gewordene Ausspruch von der „aristoktratischen“ Bedeutung des Darwinismus. Ja, wenn wir „naturgemäße“ Zustände hätten, möchte das angehen u. an der Ausmerzung aller weniger Angepaßten wärec dann wahrlich nicht gelegen. Rebus sic stantibus kämen wir aber mit solch unkontrollierten Aufstellungen leicht in den Fall, jeder siegreichen Büttelwirtschaft unsern Beistand zu leihen oder Bewunderer blödsinniger Kapitalistensprößlinge zu werden u. die täglich vielleicht zu Dutzenden im Schlamm der Proletariermasse verkommenden || Geniuskeime zu ignorieren oder negieren. Oder sollten wir, mit meinem Landsmann Stumm-Halberg, wirklich keinen 4. Stand anzuerkennen haben (hinter dem manche sogar schon deutlich einen 5ten sich abheben sehen)? Auch hierzu darf ich Sie vielleicht auf die beifolgende Broschüre eines Hamburger Fabrikanten (anbei) verweisen („Die Not des 4. Standes“ von einem „Arzt“ setzte ich als bekannt voraus). Nach alledem halte ich es wirklich an der Zeit, daß ein angesehener – u. ich wende mich gleich an den angesehensten – Wortführer unsrer „alles deckenden Weltanschauung“ entscheidende Stellung zu nehmen u. den Beweis zu liefern sucht, daß wir noch lange nicht dem Schicksal verfallen sind, statt eines führenden Generalstabs, eine wenn auch vielleicht nur etwas weiter nach dem Kampfplatz zu gelegene Etappe (à la Virchow) der unaufhaltsam vordringenden Menschheit zu bilden.

Wahrlich will auch in dieser Beziehung gut Ding Weile haben u. so möchte ich durch obige Zeilen meiner neulichen Anregung nur eine nachhaltigere Stütze liefern u. mich aufd alle Fälle für die Stunde des Losschlagens wiederholt empfohlen halten.

In bekannter Verehrung

Ihr ganz ergebener

Carl Alberts.

a korr. aus: Die; b korr. aus: Die; c korr. aus: währe; d eingef.: auf

Brief Metadaten

ID
8953
Gattung
Brief ohne Umschlag
Verfasser
Entstehungsort
Entstehungsland aktuell
Deutschland
Entstehungsland zeitgenössisch
Deutsches Reich
Datierung
03.04.1895
Sprache
Deutsch
Umfang Seiten
3
Umfang Blätter
2
Format
14,2 x 22,1 cm
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 8953
Zitiervorlage
Alberts, Karl an Haeckel, Ernst; Godesberg; 03.04.1895; https://haeckel-briefwechsel-projekt.uni-jena.de/de/document/b_8953