Ludwig Samuel Amson an Ernst Haeckel, Heidelberg, 15. Dezember 1894
Heidelberg, 15. Dezember 94.
(Anlage 18.)
Hochwohlgeboren
Herrn Prof. Ernst Haeckel
Jena.
Ew. Hochwohlgeboren
gestattet sich der Unterzeichnete zu gefälliger Äußerung Ihres verehrten Urteils Folgendes zu unterbreiten: Durch Kuno Fischers interessante Vorträge über Kunst u. Schopenhauer zu allgemeinen philosophischen Betrachtungen angeregt las ich auch in einigen Schriften von Karl du Prel und kam hierbei auf den Gedanken der Möglichkeit resp. Wahrscheinlichkeit eines engen Zusammenhanges der dort geschilderten Erscheinungen des Hypnotismus, Somnambulismus etc. mit den durch die Entwicklungslehre dargelegten, insbesondere mit den Atavismen. Da ich selbst von der Fachlitteratur bis jetzt leider nur wenig kenne, nämlich || die Hauptgrundzüge der Entwicklungslehre aus Darstellungen, einige Kapitel aus Herbert Spierers der Soziologie und aus du Prel’schen Schriften, so richtete ich, um mich zu vergewissern, an einen wohlbekannten Philosophen u. Naturforscher (dessen Namen ich jetzt nicht nennen möchte, da er die Nennung ohne vorher eingeholte Ermächtigung vielleicht nicht gutheißen würde) eine Anfrage über das oben Angedeutete, die ich wohl am zweckmäßigsten wörtlich anführe: „Ob in der bisherigen Litteratur der Lehre von den Atavismen gegenüber als deren Korrelat schon in eingehenderer Weise eine Lehre entwickelt wurde von „Posterismen“ (von der Natur antizipierten Merkmalen späterer Entwicklung angehöriger feiner organisierter Arten), unter welche auch Erscheinungen des Hypnotismus u. Spiritismus wie Fernsehen, Mediumqualität etc. zu subsumieren wären, so daß sich diese Phänomene also direkt aus der Darwin-Häckel’schen Evolu-||tionstheorie heraus aus konsequenter Anwendung und Weiterführung derselben erklären ließen?“ (Auf der anderen Seite wäre ja auch manche Erscheinung, z. B. die gewissen Somnambulen eigenthümliche Fähigkeit der Unterscheidung von Gegenständen nach dem Geruch der mit diesen in Berührung gekommenen Personen, vielleicht einfach als Atavismus zu erklären).
Auf meine Anfrage erwiderte der bezeichnete Gelehrte u. a.: „Die Lehre von den biologischen Antizipationen als Gegenstück zu den Atavismen ist meines Wissens noch nicht behandelt worden. Sie ist aber morphologisch und physiologisch eine logische Konsequenz der Entwicklungslehre… Es wäre sehr verdienstlich, wenn Sie dieses Thema behandeln würden…“
Da ich es nun im Interesse ersprießlichen Arbeitens für geboten erachte, sodann es auch für Pflicht halte, an eine solche Arbeit – die Möglichkeit bzw. Ratsamkeit der Bearbeitung durch einen Nichtnaturwis-||senschaftler vorausgesetzt – nur heranzugehen mit Wissen und unter der Anleitung des Altmeisters der großen Lehre, so wollte ich Ew. Hochwohlgeboren hierdurch den Sachverhalt mitgeteilt und um gütigen Rat ersucht haben.
In hoher Verehrung
Dr. jur. Ludw. Sam. Amson.