Friedrich von Baerenbach an Ernst Haeckel, Leipzig, 12. Juni [1878]
Leipzig, Emilien Str. 9. II.
12/VI
Verehrter Herr,
Meine Hoffnung, Sie schon mit dem Beginn des Frühlings in Jena wiederzusehen, hat sich nicht erfüllt. Ich bin gleichsam im Vorübergehen in Leipzig gestrandet u. habe eben im Augenblick eine solche Anhäufung von großen Arbeiten vor mir die ihre Bewältigung im Laufe der allernächsten Wochen fordern, daß ich selbst noch nicht weiß, wie ich mich mit denselben abfinden werde. Dennoch ist es nach wie vor || mein fester Vorsatz und Wunsch Sie in Jena zu besuchen u. auch die Stätte Ihres Wirkens bei diesem Anlaß näher und besser kennen zu lernen.
Auch gestehe ich, daß trotz einiger von mir in der Mehrzahl der Fälle auf verschiedenartige Begriffsbestimmungen oder den Anschluß auf landläufige Definitionen zurückgeführten Abweichungen – zumal ein fundamentaler Gedanke Ihrer Entwicklungstheorie (das biogenetische Grundgesetz) für mich seit geraumer Zeit ein Gegenstand des tieferen Nachdenkens geworden ist, über dessen Resultat, die physiologische Formel für das Gesetz u. die Übertragung derselben, auf diea psychologischen Phänomene || ich gern einmal persönlich mit Ihnen zu verkehren wünschte. Über den mit wahrer Naturwissenschaft u. speciell auch mit der modernen Entwickelungstheorie durchaus vereinbaren Standpunkt meiner Teleologie werden Sie vielleicht, falls Sie zur Lecture der Schrift kommen, zu einem Urtheil gekommen sein.
Sobald ich die nothwendigsten Vorarbeiten für die Herausgabe eines unter der Presse befindlichen Werkes in Gang gebracht u. einen Theil erledigt habe, gedenke u. wünsche ich nach Jena zu kommen, wenn ich nicht etwa noch im Laufe dieses Monats zu einem kurzen „ersten“ Besuch dort erscheinen sollte, was nicht ganz unmöglich, wenngleich bei der bevorstehenden Arbeits-Campagne nicht ganz wahrscheinlich ist. ||
Ich war kürzlich in Dresden und verbrachte dort auch in Gesellschaft des Prof. Fritz Schultze einige vergnügte Stunden. Ich hoffe sehr, Sie recht bald u. wenn nicht früher – doch im Juli wiederzusehen u. Ihnen bei diesem Anlaß aus Wien und Leipzig über Manches, das Sie interessiren dürfte und auch über Einiges andere zu erzählen. Inzwischen würde es mich sehr erfreuen, wenn Sie mir mittheilen wollten, wie Sie sich befinden, ob und wie lange Sie in Jena bleiben u. ob ich sicher bin Sie anzutreffen.
General-Consul Scherzer erwähnte nur, daß er Sie in Jena besucht hat. In der Hoffnung mir bald ein verwandtes Loos zu bereiten bleibe ich mit freundlichen Grüßen in bekannter Gesinnung immer
Ihr Friedrich v. Baerenbach
a eingef.: die