Bahnsen, Julius

Julius Bahnsen an Ernst Haeckel, Lauenburg, 17. Juni 1876

Lauenburg i/Pom. d. 17“Juny“ 1876.

Hochgeehrter Herr Professor!

Sie haben mich durch die gütige Übersendung Ihres jüngsten Schriftchens zu ganz besonderem Danke verpflichtet – nicht nur sahen wir dieselbe hier – in ultima Thule nach ihrer besonderen, grade für mich eigenthümlichen Bedeutung sonst leicht hätte ganz entgehen können, sondern hauptsächlich, weil dieselbe in nuce eben das enthält, was für meine anderweitigen Studien das Allerwichtigste ist und worüber mit Ihnen in einen Gedankenaustausch einzutreten mein eigentlicher Wunsch war, als es mich trieb, mich Ihnen persönlich bekannt zu machen. ||

Was ich suche, ist die charakterologische Henade und das Gesetz ihrer Constanz. Dabei stoße ich nun allerdings auf wissenschaftliche Bedürfnisse (speciell für die Ethik), welche die Descendenztheorie in ihrer gegenwärtigen Gestalt noch nicht völlig zu befriedigen vermag. Mir ist die Individualität in thesi mehr ein Ursprüngliches, als ein Product, und am allerunbequemsten fällt mir die Zumuthung, die Gattungen s.z.s. als die Knotenpunkte zwischen dem indifferent Einen und dem ausgeprägten Individuum mir vorstellen zu sollen, um sie einerseits als Ergebniß der „ramificirten Wellenbewegung“ sich verfestigen und andererseits den Individuen allzuviel von ihrer Constanz mitgeben müssten. Das war es auch, was mir an dem – für uns enthüllten – „Anonymus“ nicht genügen konnte. Mir, d. h. den Voraussetzungen || meiner pluralistischen Wellenmetaphysik, sagt es mehr zu, die Gattungen als fortgesetzte Individualbildungen anzusehen; – ich lege mehr Gewicht auf das hereditäre als auf das Accomodationsingrediens am gegebenen Individualdasein und setze die Differenz als eine ewige.

Aber diese Divergenz schmälert ja nicht im Geringsten den Werth, welchen Ihre so anschauliche wie belehrende Darstellung für mich hat – denn diese löst ja Probleme, welche auch für mich – oder innerhalb eines andern Rahmens – bestehen bleiben, so daß ich aus dieser Lektüre die reichsten Früchte gezogen habe; ganz abgesehen davon, daß auch Sie eine polarische Spaltung einnehmen, wie ich es mir für meine Realdialekik nicht besser wünschen kann.

Genehmigen Sie dem allem noch die Versicherung der aufrichtigsten Hochachtung

Ihres

ganz ergebensten

Dr. Julius Bahnsen.

 

Letter metadata

Gattung
Verfasser
Empfänger
Datierung
17.06.1876
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 8223
ID
8223