L. Bauers an Ernst Haeckel, Hamburg, 12. August 1908
Hamburg, Eilbeckerweg 55 II,
12. Aug. 08.
Sehr geehrter Herr Professor!
Sie werden verzeihen, daß ich Sie durch mein Schreiben belästige.
Vor einiger Zeit hatte ich in der Schule den 1. Artikel, also die Schöpfung zu behandeln. Ich kam auf die Entstehung des Lebens. Da ich an einen göttlichen Schöpfungsakt im biblischen Sinne nicht glauben kann, so stellte ich es so dar, daß die Materie die Kraft zur Lebenbildung in sich getragen hätte und noch in sich trüge. Ich bekenne mich || zu der Ansicht, daß unter den nötigen Bedingungen noch jetzt Leben entstehen kann. Diese meine Ansicht wird unterstützt durch einen Versuch, den in einem Buche von P. Etges „Das Weltall“ fand. Hienach bildet sich in ausgeglühter Erde Pflanzenleben unter Einwirkung der Feuchtigkeit, der Luft und der Wärme.
Durch meine Ausführungen kam ich in Konflikt mit meinem Vorgesetzten, der gerade zugegen war. Derselbe behauptete:
1. Leben kann nur aus Leben entstehen; die Entstehung a des ersten Lebens || ist ein Wunder und fällt nicht unter die Naturgesetze.
2. Die Entstehung des Lebens hat nur einmal stattgefunden, und zwar durch die Schöpferkraft Gottes. Wiederholte Entstehung des Lebens und vor allem noch die jetzige würde von keinem exakten Naturforscher anerkannt.
Es ist mir sehr viel darum zu tun, die Stellung der Wissenschaft zu dieser Frage zu erfahren, zumal für mich sehr viel davon abhängt. Ich wende mich mit meinem Anliegen an Sie, weil ich zu Ihnen das Vertrauen habe, daß Sie mir die nötige Aufklärung geben werden. Vor allem ist es mir || wichtig, zu erfahren, ob durch einen exakten Versuch nachgewiesen ist, daß sich Leben nicht nur aus Leben, sondern aus der sogenannten „toten Materie“ bilden kann, oder, wenn das nicht der Fall ist, ob dann andererseits nachgewiesen ist, daß Leben sich bestimmt nicht bilden kann ohne Leben. Denn wenn der erste Versuch noch nicht geglückt ist, so ist für mich damit noch nicht bewiesen, daß es überhaupt nicht möglich ist.
Indem ich Sie nochmals bitte, mir meine Frage zu beantworten und Ihnen zugleich im Voraus für Ihre Mühe herzlichst danke, zeichne ich
Hochachtungsvoll
Ihr L. Bauers,
Lehrer.
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