Friedrich Baumann an Ernst Haeckel, Chicago, 28. September 1914

1.

Friedrich Baumann 2744 Pine Grove Ave

Chicago Spbr. 28. 1914.

Hochverehrter Herr Professor!

Sie verzeihen wohl aufrichtig in dieser schweren und Großen Zeit einema steinalten Amerikaner deutschen Geblüts, Sie ohne den Ihnen zustehenden hohen Titel brieflich anzureden. Ich glaube damit Ihrem eigenen Wunsche zu entsprechen, den Sie dadurch betätigen, daß Sie dem hart bedrängten geliebten Vaterlande, das auch ich hier im Herzen trage, die eigene hohe Person, so gebrechlich sie auch durch hohes Alter und ein Unglück auch sei, zu Diensten stellen und zugleich damit hochherzig bekunden, daß es für den deutschen Mann heute nur eine Pflicht giebt: dem Vaterlande zu dienen und gegen den Feind im Felde zu kämpfen, und zu siegen. Und damit lebt dann ein höheres deutsches Volk, dasb in Wissenschaft und Kunst den alten Griechen nicht mehr nachstehen wird.

Es war der böse Krieg wohl vor Jahren schonc ind Betracht des perfiden England und sobald das wahnsinnige Frankreich und das weltherrschaftlich lüsterne Rußland bereit waren, wurde er vom Zaune gebrochen. In England ging der Deutschenhaß aus einem Geschäftsneide hervor. Jahrhunderte hindurch war es unbestritten das vornehmlichste Land des Handels und der Industrie, und nun auf einmal kommt ein hochgebildetes, besser veranlagtes und constituirtes Deutschland mit der Drohung ihm dieses für seine eingebildete stolze Hoheit so notwendige Uebergewicht zu entreißen. Ein ehrbares Mittel dagegen ist unter den waltenden Umständen unmöglich. Also muß es ||

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versucht werden das ganze deutsche Volk zu vernichten, so stark es auch sei. Und stehen die Mittel zu Gebote, also Krieg bis auf’s Messer. Wie groß immer die Verwüstung auch sei, das Motiv dafür ist so „edel und hochherzig“ in den Augen der Krämer, daß dagegen ein Gesammtopfer von tausenden der Milliarden Mitteln und Millionen von Menschen Opfern, ein bloßes Kinderspiel! Es ist aber positiv notwendig, daß wir, das Große Volk der Engländer, auf der Höhe der Menschheit verbleiben, und dafür – für diesen unendlich großen Zweck – das verhältnißmäßig so einfache, geringe Mittel!

Die Geschichte erzählt die Verhängnisse von Jahrtausenden. Viele und viele Kriege sind geführt worden; kein Mensch aber hat je daran gedacht, daß je es geschehen könnte einen Krieg zu führen nur – einzig nur – zu dem Zweck: einen besonderen Kaufhandel herzustellen. Es fand sich daher kein Anlaß, ein prägnantes, vernichtendes Wort zur Bezeichnung dieses elendiglichen Begriffs zu bilden. Wäre dieses Wort im Gebrauch, so würde die ganze Welt (1)e die hohen Herrn (2)f Lordsg, selbst auch die (1)h Masse der Engländer, verachten. Leider ist nun anders: es dürfen die Verbrecher sich sogar brüsten, obschon sie die obersten Missetäter.

Nun aber die Herren Amerikaner, die so liebreich auf ihre Herren Vetter blicken. Sind denn die Deutschen nicht auch Vettern der Engländeri und sogar speziell besserer Art als die Amerikaner, weil weniger vermischt? ||

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Hat nicht der Abfall von 1776 einen Bruch bewirkt, der sich nie überwinden läßt? Nie seitens der Engländer wie es scheinen will!

Angenommen die technischen Fortschritte in Amerika seien – wie es doch wohl kommen muß – im Laufe einiger Jahre, gleich dem heutigem Deutschland, auf den Punkt gekommen, daß die Waaren besser und billiger hergestellt werden könnten als die englischen, würde sich dann England einfach beruhigen weil die Amerikaner seine lieben Vettern? Die Deutschen sind ja auch seine mindestens ebenso nahe Vettern; sie sind aber dennoch so gründlich gehaßt und verachtet, daß man beschlossen hat, ihr großes und mächtiges Vaterland zu vernichten – wenn’s möglich ist. (?) Und demgemäß sieht sich England sehr bedürftig nach den Mitteln um, die ihm zurzeit zu Gebote stehn, sein Vorhaben zu erzwingen. Die Idee daß die Vetternschaft imwege stehen könntej ist einfach lächerlich; auch Brüderschaft wäre hier nichts, gegenüber der nunmehr, sok ungeheuren Machtmittel England’s. Denn erstlich hat es das kleine aber energische Japan, und dann das zu dieser Neuzeit mehr als dreifach verstärkte Rußland, welches sich über ein vernichtetes Deutschland und Oesterreich Ungarn festgesetzt und dal wesentlich größere Kräfte errungen hat. Würde somit in England nicht die „grandiöse“ Idee auftauchen: die alten 13 Kolonien, mit ihrem unendlichen Zuwachs inm den 150 Jahren, wieder unter meine Fahne zu bringen? Die Möglichkeit, ja eine Wahrscheinlichkeit liegt hier vor. Rußland hat die Millionen der nötigen Kriegern. Wir allesammt, mit Frankreich ||

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haben die übergewaltigen Flotten, die großen Truppenmassen in Kanada zu landen, die dann, das gesegnete Land unter Brand und Mord stellend, überschwemmen, und im Laufe weniger Jahre zu einer Wüste machen; und auch das nuro zu einer „hehren“ Genugtuung für das England der Jetztzeit. Falls vollep Unterdrückung des freien Landes fehlschlüge, so brächte doch der gründliche Versuch dazu demselben einen harten Schlag, der auf lange Jahre „unsere“ Oberherrschaft inbezug auf Handel und Gewerbe wiederherstellte. Da man nicht erwarten kann Rußland so ohneweiteres zu dem Geschäft zu gewinnen, so übergiebt man ihm Kanada, und Rußland wird vollständig gewonnen, denn es wäre von da an nicht alleinq ein Gebieter Europa’s, sondern säher es alss wahrscheinlich, bald die ganze Welt unter seinem Zepter zu haben.

Unsere Mitbürger, die heute so formlos dem englischen Vetter zujubeln, machen sich damitt wie oben dargestellt, zu Verrätern an ihrem eigenen Vaterlande, das sie nicht allein lieben, sonder auch schützen sollten.

Ich bedaure die Länge meines Schreibens; vielleicht aber führe ich zwei Verhältnisse an die Ihr geneigtes Interesse erwecken dürften. Aber verzeihen Sie auch gütigst die äußerlichen Ungebührlichkeiten an meinem Schreiben; es zittert die Hand des 89Jährigen und sein Geist, der immer bereit ist für alte geliebte Vaterland zu streiten, hat begonnen confus zu werden. Doch Sie verzeihen wohl gütigst?

Mit aufrichtiger Hochachtung habe ich die Ehre zu sein

Ihr stetiger tiefer Bewunderer und Verehrer

Friedrich Baumann

a korr. aus: ein; b eingef.: das; c eingef.: schon; d korr. aus: im; e eingef.: (1); f eingef.: (2); g irrtüml.: Lorlds; h eingef.: (1); i eingef.: der Engländer; j eingef.: könnte; k eingef.: so; l eingef.: da; m eingef.: im; n eingef.: Krieger; o eingef.: nur; p eingef.: volle; q eingef.: allein; r gestr.: sehr, eingef.: sähe; s eingef.: als; t eingef.: damit

Brief Metadaten

ID
7969
Gattung
Brief ohne Umschlag
Entstehungsort
Entstehungsland aktuell
Illinois
Datierung
28.09.1914
Sprache
Deutsch
Umfang Seiten
4
Umfang Blätter
4
Format
21,5 x 27,9 cm
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 7969
Zitiervorlage
Baumann, Friedrich an Haeckel, Ernst; Chicago; 28.09.1914; https://haeckel-briefwechsel-projekt.uni-jena.de/de/document/b_7969