Paul Bekker an Ernst Haeckel, Heringsdorf, 30. August 1905

Heringsdorf 30/VIII

05.

Hochzuverehrender Herr Professor!

Schon vor c. 2 Jahren, bei der Lektüre Ihrer „Welträtsel“ (leider nur der Volksausgabe) empfand ich das Bedürfnis, dem Verfasser doch wenigstens einen Dank für die belehrenden und erhebenden Stunden, die mir das Buch bereitete, auszusprechen.

Es hat mir schon oft beim Studium bedeutender Werke weh getan, daß die Autoren längst tot waren, umsomehr freute es mich, als || Zeitgenosse eines Mannes zu leben, vor dessen Werken ich so eine unbegrenzte Bewunderung empfinde. – Damals hielt mich die Erwägung zurück, es könnte wie eine lächerliche Anmaßung aussehen, wenn ich als junger, noch stark im Werden begriffener Musikschriftsteller einer Autorität, wie Sie es sind, meine bescheidene Zustimmung auszudrücken wage.

– Inzwischen bin ich aber doch zu der Überzeugung gekommen: gerade wenn jemand so hoch steht, wird er so heftig angefeindet, daß die Zustimmung selbst aus unbedeutendem Munde nicht ganz unwillkommen sein dürfte. Und gerade weil ich jung bin u. einer ganz anderen Berufsphäre angehöre mögen Ihnen diese Zeilen als Beweis dienen, wie Ihr Wirken immer größere Kreise zieht. – Leider stehen der Aneignung Ihrer größeren Werke gewisse praktische Hindernisse im Wege, die den Gedanken an käufliche Erwerbung derselben als || eine Art financiellen Größenwahns erscheinen lassen. Ein glücklicher Zufall setzte mich indessen vor Kurzem in den Besitz eines antiquarischen Exemplars der „Natürliche Schöpfungsgeschichte“ (sogar 10. Auflage). Bei dem eigehenden Studium dieses Werkes kamen mir wieder ein paar Fragen zum Bewußtsein, die ich mir auch jetzt noch nicht ganz zu beantworten vermag. Man braucht ja nur die Augen aufzutun u. man wird || die natürliche Entwicklung durch Auslese und Anpassung überall konstatieren müssen – nicht nur in der Natur sondern ebenso in der Kunst, bis auf die kleinsten Erscheinungen herab. An einer Stelle aber finde ich einen Riß u. es ist mir trotz eifrigstem Nachdenkens nicht recht gelungen, denselben auszufüllen. Nämlich, ich frage: „Wie erkläre ich mir die technische Veranlagung des Künstlers?“ Ich verstehe unter „technischer Veranlagung“ die Fähigkeit zum äußerlichen Gestalten. Von Malern u. Bildhauern will ich noch gar nicht sprechen. Aber bekanntlich gehört zum Klavier- und Violinspiel eine ganz eigenartige Konstruktion der Hände. Wie war es möglich, daß Mozart und Liszt schon in ihrem 4. Jahr geläufig Klavier spielten u. es im 6. Jahr zu ziemlich virtuoser Fertigkeit gebracht hatten? Desgl. Spohr u. Joachim auf der Geige? Die direkte Antwort wäre leicht: die günstige Handkonstruktion ließ viele Schwierigkeiten an denen andere sich jahrelang abmühen, für sie garnicht vorhan-||den sein. Aber weiter: Wie kommen sie zu dieser günstigen Handkonstruktion, deren Bedingungen ziemlich complicirt u. für jedes Instrument verschieden sind? Durch Vererbung? Kaum! Z. T. stammen sie aus gänzlich unmusikalischen Familien. Und dann: Ererbtes hätte sich wieder vererben müssen. Regelmäßig aber haben die musikalischen Menschen gänzlich unmusikalische Nachkommenschaft (die von Ihnen citierte Familie Bach ist eine fast einzig dastehende Ausnahme.) Ich stehe also vor der Tatsache: Hier ist etwas Angebornes (ganz unzweifelhaft, wenn es sich in so zartem Alter spontan äußert). Dieses Angeborne ist aber nichts Ererbstes, meist auch nicht vererbungsfähig u. äußert sich in dem einen Individuum in außerordentlichem Grade.

– Ich bitte Sie, hochzuverehrender Herr Professor, in dieser Frage keinen Zweifel, sondern eben nur eine Frage erblicken zu wollen. Vielleicht finden Sie einmal Gelegenheit, selbst darauf zurückzukommen. Nach meinem bescheidenen || Dafürhalten ist sie gar nicht einmal so ganz unbedeutend. Das beweisen schon die stehenden Ausdrücke „Wunderkind“ u. s. w. Die Sache ist auch garnicht so aus der Luft gegriffen, denn die beiden jungen Violinvirtuosen, vor allem der kleine Vecsey hat doch den ernsthaftesten Künstlern, nicht nur den gewöhnlichen Concert-Pöbel, vorläufig unlösbare Rätsel aufgegeben.

Indem ich wünsche, daß Ihnen noch viele Jahre segensvoller arbeitsfreudiger Tätigkeit vergönnt sein mögen

zeichne ich

in aufrichtiger Verehrung und Dankbarkeit

Paul Bekker

Berlin.

z. Zt. Heringsdorf Badstr. 6.

Brief Metadaten

ID
7888
Gattung
Brief ohne Umschlag
Verfasser
Entstehungsort
Entstehungsland aktuell
Deutschland
Datierung
30.08.1905
Umfang Seiten
6
Umfang Blätter
6
Format
11,1 x 17,8 cm
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 7888
Zitiervorlage
Bekker, Paul an Haeckel, Ernst; Heringsdorf; 30.08.1905; https://haeckel-briefwechsel-projekt.uni-jena.de/de/document/b_7888