Beer, Berthold

Berthold Beer an Ernst Haeckel, Brünn, 28. September 1880

Brünn, den 28. Sept. 1880.

Hochgeehrter Herr Professor!

„Die beiden Gruppen der leblosen und unbelebten Naturkörper sind durch keine absolut unausfüllbare Kluft von einander getrennt und gehören nicht zwei verschiedenen Welten an, die ersten Organismen sind unmittelbar aus Anorganen entstanden.“

Anknüpfend an diese Ihrer „generellen Morphologie“ entnommenen Stelle, erlaube ich mir, Ihre Aufmerksamkeit auf eine Reihe von Formen – die Flammen – zu lenken, denen bisher von Seite der Morphologen kaum Beachtung geschenkt wurde. Man ist jetzt daran gewöhnt, die Flammen, mit deren Beobachtung und Erforschung sich bisher ja nur die Chemiker und Physiker beschäftigten, bloß als Naturerscheinungen aufzufassen, und vergißt, daß dieselben auch Naturkörper sind, deren Individualität durch die in ihnen ablaufenden chemischen Prozesse bedingt ist. Die Flammen sind aber auch keine Kunstprodukte, wofür sie von vielen gehalten werden. Giebt es doch Flammen, die in der freien Natur ohne jede menschliche Vermittlung entstanden sind und entstehen. Aber auch unsere gewöhnlichen Gas- oder Kerzenflammen sind nicht unser || Werk, sondern vielmehr das Resultat der in ihnen tätigen chemischen Prozesse. Wollte man die Gas-Flammen deshalb, weil man sie selbst angezündet, Kunstprodukte nennen, so müßte man konsequent auch die Hausthiere und Pflanzen, die von selbst gezüchtet, als solche ansehen, was denn doch der herrschenden Anschauung widerspricht. Als individualisirte Naturkörper verdienen die Flammen ein morphologisches Interesse, wenn sie auch, vermöge ihres eigentümlichen Aggregatzustandes, den wir unrichtig als gasförmigen bezeichnen, der Erforschung und dem morphologischem[!] Studium äußerst schwer zugänglich sind, da sie weder Leichen liefern, wie die Organismen, noch starr sind, wie die Krystalle.

Durch die Vergleichung der Organismen mit den Krystallena und Mechanismen wurde man veranlaßt, als einziges Kriterium zwischen organischer und unorganischer Welt das Assimilationsvermögen, auf welches man ja die Erscheinungen des „Lebens“ zurückführt, anzuerkennen, das nur den Organismen zukommt, während es den Anorganen fehlt.

Aber auch dieses Kriterium könnte man nicht || gelten lassen, wenn man die Flammen, die man als brennende Gase – wie die Chemiker sie definiren – in das Reich der anorganischen Natur stellen sollte, den Organismen gegenüberstellt und vergleicht.

Eine weitgehende Ausführung dieser Vergleichung, die es uns zuvörderst unmöglich macht, die Flammen zu den Anorganen zu gruppiren, liegt natürlich außerhalb des Rahmens dieses Schreibens; und ich muß mich darauf beschränken, die wichtigsten Resultate derselben kurz zu skizziren. Wie die Organismen, besitzen auch die Flammen ein Assimilationsvermögen und wachsen durch Intussusception. Die sensitiven Flammen zeigen Kontraktibilität, somit Bewegungsfähigkeit und Empfindung. Kurz wir sehen an den Flammen Erscheinungen, die wir als Lebenserscheinungen zu bezeichnen pflegen. Verschieden von den Organismen sind die Flammen durch ihren Aggregatzustand und ihre relativ einfache chemische Zusammensetzung. Im Gegensatz zu dem Verhalten des Organismusb, bleibt nach dem Erlöschen der Flamme kein Ueberrest, keine Leiche zurück; denn der Flammenkörper besteht nur aus der im ent-||sprechenden Momente assimilirten Nahrung, und hiermit steht auch die Art der Erhaltung dieser Formen in der Natur im Zusammenhang.

Die Flammen entstehen durch den Zusammentritt von anorganischen Stoffen; sie sind also belebte Naturkörper, die direkt aus Anorganen, durch Autogonie entstehen. Wie die Organismen, sind die Flammen geformte chemische Prozesse und nehmen, wie jene aktiv Anteil an dem Kreislauf des Stoffes und der Kraft und an den Veränderungen, welche an der Grenze der [festen] Erdrinde und Atmosphäre vor sich gehen; sie verdienen daher wohl einen Platz im System der Naturkörper.

Von den Analogien, die uns die Flammen, als verhältnismäßig einfache Formen, für Vorgänge in den Organismen bieten, sei nur die hervorgehoben, welche zwischen dem Anzünden einer Flamme durch eine andere und der Plastidulbewegung bei der Vererbung besteht.c

Von der Wichtigkeit der Berücksichtigung der Flammen für den Ausbau der monistischen Weltanschauung überzeugt, entschloß ich mich, mit Rücksicht auf einen Vortrag Bealés in den Proceedings der Royal Microscopial Society (London) (Aprilheft 1880), mich mit einer kurzen Mitteilung an Sie zu wenden, und erbitte mir hierfür Ihre gütige Nachsicht.

Hochachtungsvollst

Ihr ergebener

Berthold Beer

Brünn, Johannesgasse 13.

a korr. aus: Kystallen; b korr. aus: der Organismen; c Wortstellung durch Ziffern korr. aus: besteht bei der Vererbung

 

Letter metadata

Gattung
Verfasser
Empfänger
Datierung
28.09.1880
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 7858
ID
7858